Wahl in Tunesien:"Wir kämpfen nun alle doppelt"

Wahl in Tunesien: „Im Herzen Tunesiens“ steht auf seinem Wahlplakat: Nabil Karoui (rechts) wurde für seine Anhänger zum „Nelson Mandela Nordafrikas“.

„Im Herzen Tunesiens“ steht auf seinem Wahlplakat: Nabil Karoui (rechts) wurde für seine Anhänger zum „Nelson Mandela Nordafrikas“.

(Foto: Hassene Dridi/AP)

Tunesien wählt heute aus 26 Kandidaten einen neuen Präsidenten. Der Favorit sitzt im Gefängnis, Anhänger des alten Regimes erklären die Demokratie für Unfug. Über ein sehr buntes Bewerberfeld.

Von Moritz Baumstieger, Sousse/Tunis

Er ist abwesend und doch allgegenwärtig in der Sporthalle am Rande der tunesischen Stadt Sousse: Auf turmhohen Plakaten, visionär in die Ferne blickend: Nabil Karoui. Auf Bannern, alten Mütterchen die Stirn küssend: Nabil Karoui. Auf bombastischen Bildschirmen und T-Shirts: Nabil Karoui, TV-Mogul und Favorit bei der Präsidentschaftswahl - derzeit leider wegen Verdachts auf Steuerbetrug und Geldwäsche in Haft.

"Karoui ist der einzige, der je zu euch gekommen ist", ruft Ridha Charfeddine ins Mikrofon, als die Trommler und Tänzer ihre Show beendet haben, mit der sie den 4000 Menschen in der Halle einheizten. Der Mann, der seine Hände mit den klobigen Ringen nun beschwörend hebt, ist schwerreicher Pharmaunternehmer und Fußballdoyen, Mitglied in Karouis neu gegründeter Partei "Herz Tunesiens", die mit Anti-Establishment-Rhetorik Wahlkampf macht und Businessleute als die besseren Politiker anpreist. "Die dort oben haben euch doch längst vergessen", ruft er.

Das Gefühl, abgehängt worden zu sein, haben viele Tunesier. Ihr Land ist das einzige, das nach dem sogenannten Arabischen Frühling 2011 den Übergang zur Demokratie schaffte, bei den Präsidentschaftswahlen soll die Macht nun zum zweiten Mal friedlich übergeben werden. Beji Caid Essebsi, der fast fünf Jahre das Amt bekleidete, ist Ende Juli mit 92 Jahren gestorben. Die Wahl wurde auf diesen Sonntag vorgezogen. In drei historischen TV-Debatten, den ersten der arabischen Welt, präsentierten sich fast alle 26 Kandidaten, nur Karoui und ein weiterer fehlten.

Das Bewerberfeld ist so bunt wie ein arabischer Vorspeisenteller, der Ausgang völlig offen: Mit Hamma Hammami trat ein Sozialist mit Stalin-Schnauzer auf, mit Abdelfattah Mourou ein gemäßigter Islamist in traditioneller Robe, der internationale Beobachter verzückt, wenn er "Freude schöner Götterfunken" auf Deutsch singt, was jedoch nicht gerade der Sound ist, der auf der Straße derzeit angesagt ist. Der amtierende Premier Youssef Chahed gab den Staatsmann, der Jura-Professor Kaïs Saïed dozierte Verfassungsdetails, und Abir Moussi, Anhängerin des alten Regimes, durfte erklären, warum sie die Demokratisierung für groben Unfug hält.

Die Einschaltquoten waren gewaltig, mit 3,5 Millionen sahen mehr als die Hälfte der registrierten Wähler zu. Euphorie löst die Abstimmung bisher nicht aus. Zyniker in den Cafés der Hauptstadt sagen: Unter einem neuen Präsidenten wird sich nichts ändern, die einzigen Bereiche, in denen es hier weiter nach oben gehen wird, sind die Inflation und die Arbeitslosigkeit.

30 maskierte Beamte stoppten den Wagen des Kandidaten

Was für Tunis gilt, gilt für das Viertel El Aouina am Rande von Sousse erst recht, wo das Team Karouis für den Kandidaten trommelt: "Kleines Auge" heißt die Gegend übersetzt, was die Aufmerksamkeit des Staates angeht, ist sie eher ein blinder Fleck: Sie ist eine jener illegalen Siedlungen, die an den Rändern vieler nordafrikanischer Städte wuchern, weil immer mehr die Dörfer verlassen, um sich in der Stadt als Tagelöhner durchzuschlagen. Als Putzhilfen in den Hotels, als Taxifahrer, als ungelernte Automechaniker, die auf altölgetränktem Boden Freiluftwerkstätten betreiben. Jeder Zweite hat hier gar keine Arbeit, in fast jeder Gasse kennt man einen, der gegangen ist. Nach Norden, mit einem Schlauchboot übers Mittelmeer, um in Europa das Glück zu suchen - oder nach Osten, nach Libyen und Syrien, um den Tod im angeblich heiligen Krieg zu finden.

Tatsächlich ist Nabil Karoui einer der wenigen, die sich in solchen Gegenden blicken lassen. Der 56-Jährige wurde mit Werbung reich, gründete einen Fernsehsender, in dem er nach einem Erweckungserlebnis täglich selbst auftrat: Als er 2016 seinen Sohn Khalil verlor, entdeckte Karoui die Wohlfahrt und spielte in einer schwülstigen TV-Show den Tröster, der Krankenstationen eröffnet, Witwen und Waisen umarmt. Dass im selben Jahr der lokale Ableger von Transparency International eine Dokumentation fragwürdiger Geschäftspraktiken von Karoui und seinem Bruder veröffentlichte, interessierte die Justiz lange wenig. Zumindest, bis Karoui begann, politische Ambitionen zu hegen. Am 23. August, kurz vor dem Beginn der Präsidentschaftskampagnen, zeigte die Staatsmacht dann, dass sie sich genauso gut auf Inszenierungen versteht wie Karoui: 30 maskierte Beamte stoppten dessen Wagen und brachten den führenden Kandidaten in Untersuchungshaft. Aus dem "Silvio Berlusconi Tunesiens" wurde für seine Anhänger der "Nelson Mandela Nordafrikas".

Als politischen Gefangenen bezeichnet auch Karouis Ehefrau ihren Mann, den sie "einmal pro Woche zehn Minuten durch eine Glasscheibe sprechen darf". Salwa Smaoui ist Managerin bei Microsoft, hat nun Urlaub genommen und schmeißt die Kampagne. In der stickigen Sporthalle von El Aouina ist ihr Auftritt der Höhepunkt. Dezent gekleidet und fast schüchtern tastet sie sich auf der ins Publikum ragenden Bühne nach vorne. Den Ton der Menschen hier zu treffen ist nicht einfach für sie, die sonst eher Französisch und nicht Arabisch spricht, doch sie macht ihre Sache gut. Falls sie sich Unsicherheiten leistet, werden sie von der Licht- und Soundshow von Karouis Werbeprofis überdeckt. Von der Bühne eilt Smaoui zum bulligen Range Rover, der vor der Halle wartet. Eine Frau schafft es noch, ihr eine Bittschrift zuzustecken, dann donnert der Fahrer durch das enge Tor. Als er auf die Autobahn einbiegt, schnauft Smaoui durch, analysiert ihren Auftritt mit ihrer Tochter, die im Auto gewartet hat. Dann beginnt sie ihre Anklage.

Eine Koalition aus der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei und dem säkularen Premier Chahed habe ihren Mann als Bedrohung gesehen und deshalb wegsperren lassen. Der Stress der Kampagne lasse sie tagsüber die Sorgen verdrängen, "doch ich wache jeden Morgen mit Bauchschmerzen auf: Was ist nur aus unserem Land geworden?" Bis zur Verhaftung sei sie überzeugt gewesen, dass die Staatsmacht so nicht mehr agieren könne. Wenn es ein Verbrechen sei, sein Land zu lieben, sei ihr Mann ein Verbrecher. "Und wenn es Populismus ist, zu den Leuten zu gehen und ihnen zu helfen, dann ist er ein Populist."

Während der Range Rover Richtung Tunis gleitet, sagt Tochter Kenza in Privatschul-Englisch, die Verhaftung sei grausam für die Familie, schade dem Vater aber nicht politisch. "Aufgeben war nie eine Option. Wir kämpfen nun alle doppelt." Karoui hat die Opferrolle geschickt gespielt, laut Umfragen seine Position gehalten - und in der Nacht zum Freitag die nächste Stufe der Inszenierung als politischer Häftling gezündet: der Favorit befindet sich nun im Hungerstreik.

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