Die jüngste Krise begann im Februar. Damals nannte Tunesiens zusehends autokratisch regierender Präsident Kais Saied die Migranten im Land, die meist ohne offizielle Aufenthaltsgenehmigung dort leben, eine Bedrohung für die islamische und arabische Identität Tunesiens. Eine Welle von Übergriffen gegen schwarze Menschen begann. Viele der geschätzt mehr 20 000 Migranten sind seither geflohen - nach Europa.
Noch im Januar hatte der italienische Innenminister Matteo Piantedosi bei einem Besuch in Tunis beide Länder als Opfer von Menschenhändlern und als Durchgangsstationen für Migranten aus Subsahara-Afrika bezeichnet. Nach offiziellen Zahlen des Innenministeriums in Rom erreichten seit Beginn des Jahres etwa 53 800 Migranten Lampedusa, Sizilien und neuerdings auch das südöstliche italienische Festland auf Booten. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) kam die Mehrheit der in Italien registrierten Migranten aus Tunesien.
Schlepper und Fischer nutzen die Not der Menschen aus und setzen mittlerweile bis zu 40 Passagiere in schnell zusammengeschweißte Metallboote mit flachem Boden und ohne Kiel, die leicht kentern. Entlang der Küste zwischen Sfax und Mahdia kommt es täglich zu Unglücken. Niemand weiß, wie viele Menschen seit Februar gestorben sind.
Mit Beginn der sommerlichen Wetterlage beginnt nun - wie in den Vorjahren auch - der Exodus junger Tunesier. Doch er könnte diesmal noch größer werden. Obwohl viele Hotels für diesen Sommer bereits ausgebucht sind und Firmen nach der Flucht der Migranten händeringend Arbeitskräfte suchen, will die Mehrheit der jungen Tunesier in Europa arbeiten. Der Mindestlohn liegt in Tunesien bei 124 Euro - im Monat. In der Tourismusbranche werden zudem oft nur saisonale Verträge angeboten. Wirtschaftlich liegt das Land am Boden.
Die Talfahrt begann bereits im vergangenen Jahrzehnt, als nach den Terroranschlägen zwischen 2013 und 2016 Touristen und ausländische Investoren ausblieben. Keine der zehn Regierungen nach dem Sturz des Diktators Ben Ali im Jahr 2011 hat eine Reform des protektionistischen Finanzsystems des Landes zustande gebracht. Selbst die wohlhabende Mittelschicht kann mit tunesischen Kreditkarten weder internationale Streamingdienste noch Lieferdienste oder Reisen buchen. Tunesier dürfen pro Jahr tunesische Dinare im Wert von maximal 1800 Euro tauschen. Die Mitnahme von Dinar-Scheinen ins Ausland ist strafbar. Seit dem Verfall der Währung und den exorbitant gestiegenen Lebenshaltungskosten sind Auslandsreisen für viele Tunesier sowieso unerschwinglich geworden. Mittlerweile entscheiden sich sogar Jugendliche aus wohlhabenden Familien für die illegale Migration. Denn die EU hat die Bedingungen für Touristen-Visa wegen der massiven Emigrationswelle deutlich verschärft.
Illegal eingereiste Tunesier erhalten in der EU nur äußerst selten Asyl. Sollte Italien, wie nun geplant, ankommende Tunesier internieren und die überwiegende Mehrheit per Flugzeug oder Boot zurückschicken, würde sich die Wirtschaftskrise noch weiter verschärfen.
Die effektivsten Investitionen scheinen ausgerechnet die Menschenhändler getätigt zu haben
Die Milliardenkredite der vergangenen Jahre sind vor allem im verarmten Südwesten Tunesiens nie angekommen. Die Selbstverbrennung des Studenten Mohamed Bouazizi dort hatte 2011 den Arabischen Frühling ausgelöst. Noch immer liegt die Arbeitslosenrate von unter 30-Jährigen in Städten wie Sidi Bouzid oder Kasserine bei knapp 40 Prozent. Fast die Hälfte des Wirtschaftseinkommens wird in den an Libyen und Algerien angrenzenden Regionen mit Schmuggel von Zigaretten, Benzin oder anderen Konsumgütern erwirtschaftet.
Die effektivsten Investitionen in dieser Region scheinen ausgerechnet die Menschenhändler getätigt zu haben. Aus dem westafrikanischen Lagos kann man inzwischen mit Überlandbussen und über soziale Netzwerke organisierte private Fahrer in weniger als fünf Tagen in der tunesischen Hafenstadt Sfax sein. Dort treffen bereits täglich Flüchtlinge aus der umkämpften sudanesischen Hauptstadt Khartum ein. Die Distanz von 3000 Kilometern quer durch das Bürgerkriegsland Libyen ist ebenfalls in fünf Tagen zu schaffen.
Auch in Europa ist ein meist streng nach Herkunftsländern geordnetes, weitverzweigtes Netzwerk an Schleppern, Bekannten und Servicedienstleistern entstanden. Im Februar berichtete etwa Birikhabosse Camara, ein 25-Jähriger aus der Elfenbeinküste, der SZ von seinem Reiseplan, der ihn von Tunesien weiter nach Lampedusa und über Norditalien nach Frankreich führen sollte. Migranten, so erzählte er, würden von den Behörden in Italien nach der Ankunft oft nicht registriert und in den Zügen an die französische Grenze nicht kontrolliert. Der Weg lasse sich in durchschnittlich fünf Tagen schaffen.
Birikhabosse Camara entschied sich für Lille. Dort hat er inzwischen, auch ohne Aufenthaltserlaubnis, tatsächlich Arbeit in einem Café gefunden. "In Europa kann man unkompliziert 1000 Euro im Monat verdienen, in Tunesien höchstens 200", sagt er. "Warum sollte irgendjemand auf die Idee kommen, dort zu bleiben?"