Tumulte an der EU-Grenze:"Wir haben die Tore geöffnet"

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  • Mit der Grenzöffnung zu Griechenland hat der türkische Präsident Erdoğan den 2016 mit der EU vereinbarten Flüchtlingspakt aufgekündigt.
  • Der sah vor, dass die Türkei Migranten von der Flucht in die EU abhält, im Gegenzug für Milliardenhilfen.
  • Mindestens 13 000 Menschen harrten in der kalten Nacht an der Grenze aus, teilte die UN-Organisation für Migration mit. 9600 sollen versucht haben, illegal über die Grenze zu kommen

Von Moritz Baumstieger und Christiane Schlötzer

Erst war es nur ein Gerücht. Es reiste per Whatsapp und Twitter, bis in die hintersten Winkel der Türkei. Da brachen schon die ersten auf, in der Nacht zum Freitag, Richtung griechisch-türkische Grenze. Für 24 Stunden, so sagte das Gerücht, werde sich dieses Tor nach Europa öffnen, dann hieß es: 72 Stunden. Da hatten es viele schon eilig, zur Vatan Caddesi in Istanbul zu kommen, einer der großen Magistralen Richtung Westen, wo Busse warten sollten. Die standen dann am Samstagmorgen auch dort, angeblich gechartert von syrischen Aktivisten, so hörten es Flüchtlinge, die einstiegen. "Çelik Turizm" stand auf einem der Busse. Sie waren schnell voll. Die, die keinen Platz fanden, gingen zum Istanbuler Busbahnhof. Auch dort fuhren Busse ab, im Stundentakt, zur Grenzstadt Edirne.

Da warteten schon Taxifahrer, verlangten Wucherpreise für die paar Kilometer bis zur Grenze. Ein Chauffeur trötete: "Noahs Schiff fährt ab, das letzte Rettungsschiff fährt ab." So berichtete es die türkische Internetseite T24. Der Staatssender TRT zeigte auf seinem arabischen Kanal Karten mit Fluchtwegen nach Europa, mit Pfeilen in Gelb und Blau. Blau stand für die Fahrt übers Meer.

Am Samstag bestätigte dann der Präsident persönlich: "Wir haben die Tore geöffnet." Und Recep Tayyip Erdoğan sagte dazu: "Wir werden die Tore auch in Zukunft nicht schließen. Wir müssen nicht so viele Flüchtlinge durchfüttern." Damit hat Erdoğan den 2016 mit der EU vereinbarten Flüchtlingspakt aufgekündigt. Der sah vor, dass die Türkei Migranten von der Flucht in die EU abhält, im Gegenzug für Milliardenhilfen. Warum Erdoğan das nun beendet, begründete er so: Europa stehe der Türkei in Syrien nicht bei, und auch nicht wirklich bei der Versorgung der fast vier Millionen Syrer in seinem Land.

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Der Präsident trug bei seinem Auftritt in Istanbul einen dunklen Dreiteiler, aber er sprach wie ein General, über Ultimaten, Offensiven, Haubitzen, Panzerfahrzeuge. Die mehr als 30 türkischen Soldaten, die bei einem Luftangriff am Donnerstag in Idlib starben, nannte er Märtyrer.

Herzlich willkommen in Griechenland. Statt einer Begrüßung gab es Pfefferspray

Als Erdoğan redete, waren schon Tausende Flüchtende bei Edirne angekommen, die meisten mit leichtem Gepäck. Es kamen junge Männer aus Afghanistan und Pakistan, die in der Türkei anders als syrische Flüchtlinge kaum Hilfe bekommen. Aber es kamen auch syrische Frauen mit kleinen Kindern. Sie fanden das türkische Grenztor offen vor, doch dann stauten sich die Menschen im Niemandsland, vor dem abgeschotteten Tor mit dem Schriftzug in Weiß und Blau: "Ellada (Griechenland). Herzlich willkommen." Statt einer Begrüßung gab es Tränengas und Pfefferspray.

Viele versuchten es dann entlang des Grenzflusses, der im Winter wenig Wasser führt. Aber auf der anderen Seite standen schon die griechischen Grenzschützer und schickten die Flüchtenden zurück. Die Beamten hätten ihm zuvor das Handy abgenommen, sagte ein Somali in Edirne. Andere berichteten von Schüssen in die Luft. T24 sprach mit zwei Afghanen, die in einem Plastikboot auf die andere Seite fuhren, sie sagten, sie seien von den Griechen verprügelt und gezwungen worden, mit demselben Boot wieder zurückzufahren. Einer hatte Schlagspuren auf der Schulter.

Schon bevor die Nacht anbrach und viele nicht wussten, wohin, auf freiem Feld am Fluss, verbreiteten sich Wut und Enttäuschung unter den Geflüchteten. Ein junger Syrer sagte der türkischen Zeitung Evrensel: "Weder die Türkei noch Griechenland noch Europa sehen uns als Menschen. Wir sind für sie wie Hunde."

Mit dem Stimmungsumschwung wurde es auch für Reporter an der Grenze gefährlich, Fernsehteams wurden von türkischen Sicherheitskräften vertrieben. Mindestens 13 000 Menschen harrten in der kalten Nacht an der Grenze aus, teilte die UN-Organisation für Migration am Sonntag mit. 9600 sollen versucht haben, illegal über die Grenze zu kommen, aber alle Übertritte seien vereitelt worden, sagte der griechische Vizeverteidigungsminister Alkiviadis Stefanis dem Sender Skai. Zuvor hatte die griechische Seite allerdings gemeldet, man habe 66 Menschen aufgegriffen. Premierminister Kyriakos Mitsotakis teilte am Sonntagabend via Twitter mit, dass für Polizei und Militär die höchste Alarmstufe gelte und dass Griechenland einen Monat lang keine Asylanträge annehme. Auf der Insel Lesbos kamen am Sonntagvormittag etwa 400 Menschen an, sagte die griechische Küstenwache. In Chios waren es 58, auf Samos 30. Bewohner von Lesbos hinderten Berichten zufolge Migranten daran, an Land zu kommen. Ein Mann, der sich via Twitter als erfahrener Schlepper vorstellte, schrieb: "Die Flüchtlinge haben es falsch verstanden, sie sind zu den Grenztoren gefahren. Sie hätten an die Küste kommen sollen." Der Mann nannte auch seine Preise: Mehrere Tausend Dollar. Die dreistündige Fahrt von Istanbul nach Edirne im Bus kostet regulär nicht mehr als zehn Euro. Am Sonntagmorgen behauptete der türkische Innenminister Süleyman Soylu, es hätten bereits 76 358 Flüchtlinge sein Land verlassen. Dafür gab es von keiner anderen Seite eine Bestätigung.

Das Gerücht, die Wege in die EU würden bald passierbar, kursiert auch in der nordsyrischen Provinz Idlib, wo seit Dezember 950 000 Menschen vor den Kämpfen geflohen sind. "Die Türkei hat versprochen, dass sie aufmacht", berichtet ein Mann aus der Stadt Ariha der SZ am Telefon, "und zwar für alle." Diese Information habe er von einem türkischen Offizier erhalten.

Längst hat das türkische Militär im Kampf gegen Syriens Machthaber Assad eine aktivere Rolle übernommen: Am Wochenende griff es mit Raketen und Drohnen Ziele in Syrien an. Nach eigenen Angaben hat die Armee dadurch 2200 syrische Soldaten, 103 Panzer und acht Hubschrauber "neutralisiert". Am Sonntag meldete die Türkei zudem den Abschuss von zwei syrischen Kampfjets.

Damit will Ankara zum einen Vergeltung für den Tod der 36 türkischen Soldaten üben, die bei einem Luftangriff in der Provinz Idlib getötet wurden. Zum anderen ist in der Nacht zum Sonntag das Ultimatum abgelaufen, das Erdoğan an Assad gerichtet hatte: Bis Ende Februar sollten sich dessen Truppen hinter die Frontlinien einer 2018 vereinbarten Waffenruhe zurückziehen. Das ist nicht geschehen, nun will die Türkei nach Angaben von Verteidigungsminister Hulusi Akar syrische Truppen ins Visier nehmen, Kämpfe mit Assads Verbündetem Russland hingegen eher meiden. Einen offiziellen Namen hat die türkische Offensive auch schon: "Operation Frühlingsschild."

© SZ vom 02.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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