Kommunalwahlen in der Türkei:Menschenfänger unter sich

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Dass sich Präsident Erdoğan seit zwei Jahrzehnten an der Spitze hält, hat mit seinem Gefühl fürs Land zu tun. Er weiß, wann er wie weit gehen kann, auch im Umgang mit seinen Konkurrenten. (Foto: Marton Monus/dpa)

Vor den Kommunalwahlen tourt Präsident Erdoğan durchs Land, vor allem das Rathaus von Istanbul will er erobern. Denn dort regiert ein Oppositioneller, der ihm gefährlich werden könnte.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Im Prinzip ist es eine Machtprobe. Dabei scheint es doch, als habe der eine längst gewonnen. Einer, der für sein Land steht, als habe es nie einen anderen Präsidenten gegeben. Dem der Staat gehorcht, der sich seine eigenen Gesetze macht, und der es ignoriert, wenn ihm das Verfassungsgericht ausnahmsweise einmal widerspricht. Einer eben, der weiß, dass die Macht dort ist, wo er ist.

So sagt Recep Tayyip Erdoğan in diesem Wahlkampf vor der Kommunalwahl: Stimmt am 31. März für meine Kandidaten, für meine Bürgermeister, dann bleibt für euch mehr übrig. Den Menschen im Erdbebengebiet rief er zu, sie sollten die AKP wählen, seine Partei, damit Hilfe bei ihnen ankäme. "Denn wer regiert das Land?", fragte er vergangene Woche in Istanbul. "Wir."

Also er und die seinen. Kommt zu uns, das ist Erdoğans Botschaft an die Anhänger der Opposition. Seht ein, dass Widerstand zwecklos ist. "Wir regieren." So sprach der Präsident, als er eine neue Zuglinie für Istanbul eröffnete. Es hätte auch eine Klinik sein können oder ein Autobahnabschnitt, etwas zum Einweihen findet sich immer, gerade jetzt im Wahlkampf. Aber die Zuglinie ist etwas Besonderes, sie soll dem Sirkeci-Bahnhof neues Leben einhauchen. Sirkeci war der Bahnhof der Sultane. Der Orient-Express kam hier noch an, als Erdoğan in Kasımpaşa aufwuchs, einem nahe gelegenen Werftenviertel.

Am Tag, als der Präsident diesen Satz sagte, "wir regieren", da wurde er siebzig. Er regiert seit 21 Jahren. Russlands Präsident Putin rief an und gratulierte. Erdoğan ist kein Sultan, steht aber in deren Tradition, so sieht er sich. Er ist gewählt bis ins Jahr 2028, gerade plant er nebenher eine neue Verfassung. Dass er neulich meinte, diese Wahlen seien für ihn die letzten, nahm in der Türkei niemand ernst. Machtprobe? Wen soll dieser Mann denn noch fürchten?

Der Oberbürgermeister von Istanbul wagte sich in Erdoğans Revier

Ein paar Tage später bot sich einer an. Gut, er tut das schon seit fünf Jahren, aber an dem Tag sah es aus, als würde Ekrem İmamoğlu dem Präsidenten ins Gesicht lachen. Der Oberbürgermeister von Istanbul, Mitglied der oppositionellen CHP, hatte sich ins Erdoğans Kindheitsrevier gewagt, in eine der alten Werften von Kasımpaşa. Seit 2019 regiert İmamoğlu die Metropole, damals nahm er Erdoğans AKP das Amt des Oberbürgermeisters ab, das Amt, in dem in den Neunzigerjahren auch Erdoğans Karriere begann.

Ekrem İmamoğlu ist der Oberbürgermeister von Istanbul. (Foto: Murad Sezer/REUTERS)

Erdoğan ließ İmamoğlus Sieg von der Wahlkommission annullieren, ließ Neuwahlen ansetzen. İmamoğlu entschied sie für sich. Was seither geschah? Der Präsident machte ihn als Gegner aus. Er ließ ihn gerichtlich verurteilen. İmamoğlu soll die Wahlkommission beleidigt haben. Ein konstruierter Vorwurf, der für ein Urteil zu Haft und Politikverbot reichte. Ganz ähnlich jenem Strafmaß, das in den Neunzigern gegen Erdoğan selbst erging. In den Jahren, bevor er das Land beherrschte. Erdoğan musste für eine Weile ins Gefängnis, bevor er Premierminister wurde.

İmamoğlu? Ist im Amt geblieben. Er macht Wahlkampf. Das Urteil ist bisher nicht rechtskräftig, es schwebt wie eine Drohung über ihm. Und das ist sie, die Machtprobe. Wo liegt sie, die Macht? Nur im Palast? Wäre es so, hätte der Präsident den Oberbürgermeister längst aus der Politik entfernen lassen können, den Gegner, der wie eine jüngere und frischere Version seiner selbst wirkt.

İmamoğlu ist ein Menschenfänger wie Erdoğan, er kann mit allen

Zu den Dingen, die İmamoğlu von Erdoğan übernommen hat, zählt seine Freude am Einweihen. Neue Parks, U-Bahnen, Bibliotheken. Er war also nach Kasımpaşa gekommen, in eine Kunstgalerie in den Räumen einer Werft. An der Wand hingen zwei Gemälde, auf dem einen Sultan Mehmed, der Eroberer von Istanbul, auf dem anderen Sultan Süleyman, genannt der Prächtige. Zwei der wichtigsten Osmanen. Was tat İmamoğlu? Stellte sich genau zwischen die beiden. Und lachte in die Kamera. Mit einer Leichtigkeit im Gesicht.

Natürlich wusste er, was er da tat. Wer mit Sultanen posiert, hält sich für Höheres berufen. Sonst ist es der Präsident, der sich auf die Osmanen und ihr Weltreich bezieht. Und dann kommt Ekrem İmamoğlu und sagt: Das kann ich auch. Es gehört nicht dir allein.

Ekrem İmamoğlu, 52 Jahre alt, versucht eine Neuerfindung der türkischen Opposition, weg von der säkularen Strenge, die fromme Wähler verschreckt. İmamoğlus Familie kommt vom Schwarzen Meer, wie Erdoğans, er ist ein Menschenfänger wie der Präsident, ein bisschen links, ein bisschen rechts, seine Mutter ist verhüllt, seine Frau eine promovierte Feministin. Er kann mit allen. Alles andere als ausgeschlossen, dass er auch mal als Präsident kandidieren könnte.

Dass die AKP in Istanbul nicht an der Macht sitzt, ist eine ständige Demütigung

Es ist seine Beliebtheit, die İmamoğlu schützt. Dass Recep Tayyip Erdoğan sich seit zwei Jahrzehnten an der Spitze hält, hat mit seinem Gefühl fürs Land zu tun. Er weiß, wann er wie weit gehen kann. Den Istanbuler OB aus seinem Büro heraus abführen lassen, wie es kurdischen Politikern ergangen ist, das wäre ein Schritt zu weit. Erdoğan möchte Ruhe. Er will, dass sich die Menschen mit seiner Herrschaft abfinden.

Nach zwei Jahrzehnten bleibt ihm, dem Mächtigen, nur das Werben um Stimmen. Denn gewinnen will er unbedingt. Die Istanbuler Stadtverwaltung hat ein größeres Budget als die meisten Ministerien in Ankara, sie entscheidet über Investitionen in Milliardenhöhe. Dass darüber die Opposition verfügt, ärgert Erdoğan. Damit, dass seine Gegner in Izmir oder Antalya regieren, kann er leben. Aber in Istanbul? Das ist eine ständige Demütigung.

Der AKP-Kandidat für Istanbul ist ein blasser Technokrat

Die eine Stadt ist es, die für ihn zählt, auch wenn am 31. März die ganze Türkei wählt. Nicht einmal um Erdoğans Kandidaten geht es, den blassen Murat Kurum. Ein Technokrat, ein Statthalter, falls er gewinnt. İmamoğlu tritt gegen Kurum an, aber sein eigentlicher Gegner ist der Präsident. Es geht ihm um die Rettung der Opposition - dass ihr nach der Niederlage im vergangenen Jahr noch ein wenig Hoffnung bleibt. Verliert er, wird Erdoğan die Türkei weiter nach seinen Vorstellungen formen. Hin zu einem Land, in dem Wahlen keine große Bedeutung mehr haben.

İmamoğlu hat es schwerer als vor fünf Jahren, weil diesmal andere Oppositionsparteien eigene Kandidaten aufstellen. Und weil Erdoğan immer noch ein harter Gegner ist, selbst wenn er nicht auf dem Stimmzettel steht. Weil die Macht etwas bedeutet in der Türkei, wer sie innehat, der ist jemand, bei vielen verfängt das noch. Allerdings bekam auch Erdoğan in diesem Wahlkampf Konkurrenz im eigenen Lager, eine neue islamistische Partei zieht unzufriedene Fromme an. Es ist die Partei eines Mannes namens Fatih Erbakan, dessen Vater in den Neunzigern so etwas wie der politische Mentor von Recep Tayyip Erdoğan war.

Für Istanbul sagen die Umfragen ein enges Rennen voraus, İmamoğlu liegt knapp vorn. Nur bei der Frage, wer die besseren Chancen hat, führt er klar. Offenbar glauben viele, dass er einer ist, der siegen kann. Erdoğan hat das früh gesehen. Er weiß, da ist jemand, den sie auf der Straße mögen. Dort, wo die Macht liegt.

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