Spätestens als auf der Mai-Parade 1968 in Prag ein Transparent gezeigt wurde, das die traditionelle Propagandalosung der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei - "Mit der Sowjetunion auf ewige Zeiten!" - durch den Zusatz "... aber keinen Tag länger" ergänzte und damit verspottete, war offensichtlich, dass die Reformer um Parteichef Alexander Dubček im Begriff waren, die Hoheit über ihr Experiment eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu verlieren.
In Moskau wurden solche eigentlich harmlosen Respektlosigkeiten nämlich als gezielte Provokation penibel registriert. Und keine vier Monate später überschritten Truppen der Warschauer Pakt-Staaten die Staatsgrenzen der Tschechoslowakei.
Dubček reagierte auf die "Tragödie seines Lebens" fassungslos: Mir, "der ich mein Leben der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion geweiht habe - mir tun sie so etwas an."
Der "Prager Frühling", der im Januar 1968 mit der Ablösung Antonín Novotnýs als Generalsekretär der KP begonnen hatte, wurde von Panzern niedergewalzt. Der weltweit erste Versuch, "eine sozialistische Gesellschaftsordnung nicht nur mit marktwirtschaftlichen Elementen, sondern auch mit Demokratie und Gewaltenteilung zu verbinden", war - zumindest vorerst - gescheitert.
Martin Schulze Wessel, der an der Universität München Osteuropäische Geschichte lehrt, widmet der Invasion indes nur wenige Seiten. Ihm geht es vielmehr darum, aus der Vorgeschichte des Prager Frühlings ein neues Verständnis der Reformepoche zu gewinnen.
Demnach trieben im Wesentlichen zwei Impulse den Prozess voran: die "Zukunftsvorstellungen einer neuen Gesellschaft, die auf eine Humanisierung des Sozialismus" oder gar eine "Konvergenz" mit den westlichen Demokratien hinausliefen. Und die Auseinandersetzung mit den "Justizverbrechen" der Fünfzigerjahre, für die Teile der bis 1968 amtierenden Führung der KP "persönliche Verantwortung" trug.
Eindringlich schildert Schulze Wessel die nach sowjetischem Muster abgewickelten Schauprozesse der 1950er-Jahre, die nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter zusammenschweißte. War die Solidarität bei den einen das Ergebnis gemeinsamen Leidens und vor allem der gerade für die betroffenen Kommunisten schockierenden Erfahrung, dass die Gewalt von der "eigenen Partei" ausging, so speiste sie sich bei den anderen aus "Angst und Schuld".
Die allmähliche Rehabilitierung erfolgte deshalb selektiv und halbherzig: Dass beispielsweise 148 Todesurteile bereits vor der jeweiligen Verhandlung im Präsidium des Zentralkomitees der KP beschlossen worden waren, wurde erst 1968 publik.
Zur Vorgeschichte des Prager Frühlings - übrigens ein eher im Westen gebräuchlicher Begriff, die Reformer sprachen stattdessen lieber vom "Prozess der Wiedergeburt" - zählt Schulze Wessel auch die Zukunftsvorstellungen. Ausführlich analysiert er entsprechende Entwicklungen und Ideen in den Bereichen Literatur, Philosophie, Wirtschaft sowie Politik und Recht.
Zwar blieb die sozialistische Gesellschaft als "Deutungsrahmen" zunächst im Kern erhalten, aber das marxistische Konzept des historischen Fortschritts und mit ihm die Führungsrolle der Partei wurden Schritt für Schritt infrage gestellt. "Markt", "Interesse", "wissenschaftlich-technische Revolution" waren plötzlich heftig umkämpfte Vokabeln.
Schon 1967 protestierten die Studenten
Die Kafka-Konferenz in Liblice vom Mai 1963 markierte die Rückkehr des zuvor als "bourgeois" und "dekadent" verfemten Autors in seine Heimat. Der maßgeblich von Radovan Richta verfasste Report zu den gesellschaftlichen Folgen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung prognostizierte den Vorrang der Wissenschaft gegenüber der Industrialisierung und holte damit "die Zukunft ganz nahe an die Gegenwart heran".
Ota Šiks wirtschaftspolitische Reformvorschläge von 1963 liefen darauf hinaus, die "Ware-Geld-Beziehungen" besser zu nutzen, mit anderen Worten: die Produktivität durch die Einführung von Marktmechanismen zu erhöhen. Und Zdeněk Mlynářs Überlegungen zur Reform des politischen und rechtlichen Systems der Tschechoslowakei zielten auf die Abschaffung der führenden Rolle der KP und die Ermöglichung einer "pluralistischen Demokratie".
Es waren jedoch nicht diese unterschiedlichen, nicht immer kohärenten Reformkonzepte, die dem Prager Frühling seine "Einheit" gaben - sondern das "dramatische Geschehen" zwischen Januar und August 1968. Ihm wendet sich Schulze Wessel in den folgenden Kapiteln des Buches zu.
Zunächst schildert er die alltäglichen Mängel, nämlich die durch das Abschalten des Stroms und der Heizung in einem Studentenwohnheim ausgelösten Proteste Prager Studenten im Oktober 1967, den Sturz Novotnýs und die Abschaffung der Zensur im März 1968; insbesondere die Printmedien konnten dadurch im Verein mit dem 1965 neu gegründeten "Institut für die Erforschung der öffentlichen Meinung" den Prager Frühling entscheidend prägen. Anschließend thematisiert er die Bemühungen nichtkommunistischer Gruppen um politisches Gehör und organisatorische Repräsentation.
Die im Sinne der Reformer triumphale Maifeier verdeckte indes die wachsende Unzufriedenheit der Sowjetunion, die während der Verhandlungen der vierköpfigen tschechoslowakischen Delegation unter Führung Dubčeks am 4. Mai in Moskau zum Ausdruck kam. Seither hing das "Damoklesschwert des Revisionismusvorwurfs" über Dubček und seinen Mitstreitern - mit dem bekannten tragischen Ende.
Um was in Prag und im Westen 1968 ging
Es gelingt Schulze Wessel auch dank zahlreicher unveröffentlichter Quellen aus tschechischen Archiven hervorragend, sowohl das Faszinierende dieses frühen Versuchs, die Systemgegensätze zu überwinden, als auch die Dramatik der Ereignisse einzufangen.
Und obwohl sich "1968" bei uns und in der Tschechoslowakei in vielerlei Hinsicht unterschieden - in einem Punkt herrschte Übereinstimmung: in beiden Fällen ging es (auch) um die kulturellen Grundlagen der Nation.
Werner Bührer ist Zeithistoriker. Er lebt in München.