"Todesmarsch" nach Zweitem Weltkrieg:Brünn bedauert Vertreibung der Sudetendeutschen

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  • Tschechiens zweitgrößte Stadt Brünn (Brno) "bedauert aufrichtig" die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung 1945.
  • In einer vom Stadtrat verabschiedeten Erklärung heißt es, man wolle die Ereignisse "in unserem Gedächtnis als ein unheilvolles Memento erhalten".
  • Ende Mai 1945 waren mehr als 20 000 deutschsprachige Frauen, Kinder und Alte von Brünn zur 60 Kilometer entfernten tschechoslowakisch-österreichischen Grenzen getrieben worden. Mindestens 2000 Menschen kamen durch Erschöpfung oder Gewalt ums Leben.

Von Oliver Das Gupta

Brünn geht offensiv mit einem heiklen Kapitel der Stadtgeschichte um. In der zweitgrößten Stadt des Landes und Kapitale Mährens hat der Stadtrat sein Bedauern über die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung nach Ende des Zweiten Weltkrieges ausgedrückt.

Damit eifert die Stadt, die im Tschechischen Brno heißt, Václav Havel nach. Lange Zeit war der ehemalige Präsident der einzige namhafte Politiker seines Landes, der seine Bürger immer wieder auf das heikle Thema hinwies. Die Tschechen sollten fähig sein, nicht nur "das von deutschem Boden hervorgegangene Böse zu reflektieren, sondern auch unsere eigene Geschichte und die grausamen Handlungen, die wir - wenn auch als Antwort auf grausame Handlungen anderer - selbst begingen". Das sagte Václav Havel im Jahre 2003 ( hier mehr dazu) - und nicht wenige seiner Landsleute ärgerten sich damals darüber.

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Drei Millionen deutschsprachige Menschen wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gezwungen, die Tschechoslowakei zu verlassen. Die vom damaligen tschechoslowakischen Staatschef Edvard Beneš abgesegneten und oft mit Gewalt und Tod einhergehenden ethnischen Säuberungen hatten eine Vorgeschichte. Sie waren Reaktion auf die Jahre der Schreckensherrschaft Nazi-Deutschlands über die bis dahin multikulturelle Tschechoslowakische Republik ( hier mehr dazu).

Inzwischen scheint Havels Wunsch nach Aufarbeitung und Versöhnung mehr und mehr in Erfüllung zu gehen. Auf deutscher Seite, wo man sich jahrzehntelang an den Beneš-Dekreten abgearbeitet hatte, kommen von den Vertriebenen konziliantere Töne (hier mehr dazu). Und immer mehr meist jüngere Tschechen fordern, das dunkle Kapitel anzugehen. In Brünn hat es nun auch die lokale Politik getan.

Etwa 26 000 deutschsprachige Brünner wurden am 30. Mai 1945 zusammengetrieben. Am Tag darauf mussten sie zu Fuß mehr als 60 Kilometer in Richtung Österreich gehen. Dort ließ man die erschöpften Zivilisten anfangs nicht über die Grenze. Frauen, Kinder und alte Menschen kamen durch die Strapazen um. Es soll auch zu Morden und sexuellen Übergriffen durch die bewaffneten Wächter gekommen sein. Mindestens 2000 Menschen starben, andere Quellen nennen deutlich mehr als 5000 Todesopfer.

An diese als "Brünner Todesmarsch" bekannte Vertreibung hat an diesem Dienstag der Stadtrat erinnert. In der "Deklaration der Versöhnung und der gemeinsamen Zukunft" heißt es sinngemäß:

"Brünn bedauert aufrichtig die Geschehnisse des 30. Mai 1945 und der darauf folgenden Tage, in welchen Tausende Menschen wegen der Verwirklichung des Prinzips der Kollektivschuld oder der gebrauchten Sprache gezwungen wurden die Stadt zu verlassen.

Wir sind uns dessen bewusst, welche menschlichen Tragödien sowie kulturelle und gesellschaftliche Verluste es damals zur Folge hatte. Wir bringen die Hoffnung zum Ausdruck, dass auf Grund der Kenntnis der historischen Ereignisse und ihrer Folgen es nicht mehr möglich wird, dass sich in Brünn Ähnliches wiederholt, und dass wir die Geschehnisse von Mai 1945 in unserem Gedächtnis als ein unheilvolles Memento erhalten.

Wir äußern auch den Wunsch, dass sämtliches vergangenes Unrecht verziehen werden kann, damit wir von der Vergangenheit unbelastet und uns in gegenseitiger Zusammenarbeit einer gemeinsame Zukunft zuwenden können."

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Die Erklärung des Stadtrats zu den Vorgängen ist ein beachtliches Zeichen der mährischen Hauptstadt. Und sie ist nicht unumstritten. Die Stadtverordneten der Kommunisten stimmten gegen die Erklärung, die Vertreter der konservativen ODS und der sozialdemokratischen ČSSD blieben der Sitzung fern. "Politiker sollten die Vergangenheit nicht bewerten", sagte Südmährens Regionspräsident und ČSSD-Mann Michal Hasek etwas unbeholfen.

Andere Parteien wie TOP 09 des ehemaligen Außenministers Karel Schwarzenberg stimmten mit der Mehrheitsfraktion von Brünns Bürgermeister Petr Vokřál.

Er gehört der liberalen Protestpartei ANO des Unternehmers Andrej Babiš an. Der Frust der Bürger über die Volksparteien hat ANO bei der letzten Parlamentswahl auf Anhieb zur zweitstärksten politischen Kraft im Abgeordnetenhaus gemacht ( hier mehr dazu). Milliardär Babiš fungiert seitdem als Vizepremier und Finanzminister in Prag.

Dem "Todesmarsch" wird ein "Marsch des Lebens" entgegengesetzt

Sein Parteifreund Vokřál wurde 2014 Bürgermeister von Brünn; unter ihm setzt sich die Stadt nun demonstrativ mit der Vergangenheit auseinander. 2015 wurde zum "Jahr der Versöhnung" erklärt ( hier mehr dazu). Zeitzeugen sollen zu den Gedenkfeiern geladen werden.

70 Jahre nach dem "Brünner Todesmarsch" wird der Opfer auf besondere Weise gedacht. Am 30. Mai geht ein "Marsch des Lebens" von der österreichischen Grenze zurück nach Brünn ( hier mehr dazu).

Bürgermeister Vokřál sagt, er bitte um Vergebung für das frühere Unrecht. Das was geschehen ist, dürfte die Zukunft nicht belasten.

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70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat Tschechiens zweitgrößte Stadt Brünn (Brno) die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung im Mai 1945 bedauert. Die Mehrheit des Stadtrats stimmte am 19. Mai 2015 einer entsprechenden Erklärung zu, die SZ.de dokumentiert.

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