Das Politische Buch:Protokoll eines Versagens

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Ganz normale Hanauer: Mehrere Hundert Menschen halten im August 2020 bei der offiziellen Gedenkveranstaltung zu den rassistisch motivierten Anschlägen in Hanau Schilder mit den Fotos von Opfern in den Händen. (Foto: Boris Roessler/dpa)

Beim Terroranschlag von Hanau verlor Çetin Gültekin seinen Bruder. Vier Jahre später schreibt er ein Buch über seinen Kampf für Aufklärung - und gegen das Vergessen.

Rezension von Gianna Niewel

Es war kalt am 19. Februar 2020 in Hanau, das weiß Çetin Gültekin noch, und dass der Anruf seines kleinen Bruders gegen 21 Uhr kam. Er saß auf der Couch. Der Bruder erzählte, er habe die Schicht eines Kollegen im "24/7" Kiosk übernommen, Kim und Mercedes seien auch da, sie würden Nudeln bestellen. Ob er auch etwas wolle? Çetin Gültekin verneinte, er hatte gerade mit seiner Frau gegessen. Dann legten sie auf. Etwa anderthalb Stunden später klingelte sein Handy wieder, diesmal war sein Sohn dran: "Onkel wurde erschossen, komm schnell."

Erschossen? In Hanau?

Am 19. Februar 2020 tötete ein Deutscher in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen: Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gökhan Gültekin, den kleinen Bruder von Çetin Gültekin, der nach dem Anruf sofort in die Stadt fuhr, wo dann schon Polizeiwagen die Straßen blockierten, Sirenen gingen, wo er eine Polizistin sah, die aus dem Kiosk kam und sich übergab. War sein Bruder da drin?

Der Fall ist offiziell abgeschlossen, der Täter richtete sich selbst

Seit dem Terroranschlag sind vier Jahre vergangen, vier Jahre, in denen die Familien der Getöteten alles versucht haben, um aufzuklären, was damals passiert ist. Während der damalige Innenminister Peter Beuth (CDU) die "exzellente Polizeiarbeit" lobte, drängten sie auf einen Untersuchungsausschuss im Wiesbadener Landtag, beauftragten eine Rechercheagentur, konnten so etwa zeigen, dass der Notruf an dem Abend überlastet war, dass das Problem bekannt war und immer wieder auch, wie sie von vielen Behörden behandelt wurden, als seien sie Fremde. Vier Jahre, das ist eine lange Zeit.

Vier Jahre, das ist aber auch sehr wenig, wenn man in der Nacht einen Menschen verloren hat. "Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland: Das zu kurze Leben meines Bruders Gökhan Gültekin und der Anschlag von Hanau" heißt das Buch, in dem Çetin Gültekin gemeinsam mit Mutlu Koçak die Geschichte seiner Familie erzählt. Von den Hoffnungen, die die Eltern hatten, von der Heimat, die die Kinder hier finden sollten, Gökhan, den alle nur Gogo nannten, und er, Çetin.

Es ist viel geschrieben worden in den Jahren nach dem Anschlag, auch weil die Angehörigen Druck gemacht haben, #saytheirnames. Nun aber ist der Untersuchungsausschuss abgeschlossen, einen Strafprozess gab es nie, weil der Täter sich selbst tötete. Die Aufarbeitung ist offiziell beendet, aber in Hanau wollen die Familien nicht, dass ihre Toten vergessen werden, dass diese rassistische Tat vergessen wird.

Niemals vergessen! Wandgemälde der neun Opfer unter der Frankfurter Friedensbrücke im Jahr 2020. (Foto: Thomas Lohnes/Getty Images)

Zum Jahrestag also haben gleich zwei von ihnen selbst geschrieben. Ebenfalls gerade erschienen ist das Buch von Said Etris Hashemi, der seinen Bruder in der Arena-Bar in Hanau verloren und selbst schwer verletzt überlebt hat, und eben das von Çetin Gültekin.

Gültekin beginnt damit, wie sein Vater 1969 aus der Türkei kam, um auf der A45 Asphalt zu verlegen. Der Krieg war lange vorbei, Deutschland wollte Fahrt aufnehmen. Der Vater strenge sich an, wechselte in eine Gießerei, blieb bis zur Rente. Er kaufte ein Haus für sich und seine Frau, dort wurden auch Çetin und Gökhan geboren. Zwei Hessebub.

Schon als Kinder Rassismus erfahren

Auf knapp 300 Seiten spannt Gültekin den Bogen vom Ankommen der Familie bis in die Gegenwart, und es ist dieser Bogen, der das Buch lesenswert macht. Er zeigt, wie die Brüder schon als Kinder Rassismus erfahren, wie Gökhan überall der Beste sein wollte und Çetin irgendwann Marihuana vertickte, ehe er entschied, sein Leben zu ändern und mit dem Kiosk "24/7" neu anzufangen. Er zeigt, wie viel schwerer sie es hatten, schon lange bevor der Täter am 19. Februar nicht nur Gökhan Gültekin erschoss, sondern auch acht weitere Menschen mit Migrationsgeschichte und seine Mutter.

Çetin Gültekin, Mutlu Koçak: Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland. Das zu kurze Leben meines Bruders Gökhan Gültekin und der Anschlag von Hanau. Heyne, München 2024. 304 Seiten, 16 Euro. (Foto: Heyne)

Die Stärke des Buches liegt darin, dass da jemand von den Versäumnissen erzählt; der sie miterlebt hat: wie es war, erst um 6.30 Uhr am nächsten Morgen zu erfahren, dass der Bruder gestorben ist, in einer Sporthalle, in der irgendwann laut die Namen der Toten verlesen wurden. Wie sie erfuhren, dass der Leichnam obduziert worden war, ohne ihnen Bescheid zu sagen, wie sie ihn dann waschen wollten, aber die Schnitte so schlecht vernäht waren, dass sich Flüssigkeit aus dem Leichnam drückte, wie sie den Leichnam zurückbekamen, um ihn in der Türkei zu bestatteten, und dann Monate nach der Tat einen Anruf erhielten: Die Gerichtsmedizin hatte noch Gewebeteile, die könnten sie abholen, ein Stück Herz, ein Stück Lunge, ein Stück Hirn. Das Buch, es ist das notwendige Protokoll eines Versagens.

Gökhan Gültekin konnte nach dem Anschlag erst mal nicht arbeiten, nachts lag er wach, tagsüber fühlte er sich erschlagen. Irgendwann fing er an, an dem Buch zu schreiben, gegen Hass, gegen Hetze, und vielleicht liegt es gerade zu einer richtigen Zeit in den Buchläden.

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