Rechter Terror

Deutschland, wir müssen reden

Vor drei Jahren hat ein Rassist in Hanau neun Menschen erschossen. Wann fängt dieses Land endlich an, Rechtsextremismus ernst zu nehmen und Betroffenen zuzuhören? Ein Brief.

Von Avin Khodakarim
19. Februar 2023 - 6 Min. Lesezeit

Liebes Deutschland,

ich hatte neulich einen Albtraum: Ich stehe in einem Geschäft, als plötzlich ein Mann anfängt zu schießen. Die Menschen schreien, alle versuchen wegzurennen, doch die Tür zum Ausgang ist verschlossen. Neben mir steht ein Polizist, ich packe ihn an den Schultern und schreie: „Hilfe! Tun Sie doch was!“ Doch er sieht durch mich hindurch.

Seit drei Jahren häufen sich Träume wie dieser. Seit drei Jahren weiß ich: Ich kann mich in Deutschland nicht mehr so sicher fühlen. Damals, am 19. Februar 2020, wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov von einem Rassisten in Hanau erschossen. Der Terroranschlag jährt sich am Sonntag zum dritten Mal. Was hast du seitdem gelernt, Deutschland? Deine Politiker:innen, deine Beamten, deine Zivilgesellschaft? Bist du für die Hinterbliebenen da?

Hanau bedeutet, allein zu sein mit der Angst, mit der Trauer, dem Schmerz

Deutschland, du vergisst zu schnell. Für den weißdeutschen Teil von dir scheint Hanau oft nicht viel mehr als ein tragisches Ereignis zu sein. Für Betroffene von Rassismus jedoch ist Hanau mehr als der Tatabend.

Hanau ist, allein zu sein mit der Angst, mit der Trauer, mit dem Schmerz. Mit dem Gedanken, dass es auch uns hätte treffen können – dass es uns jederzeit treffen kann. Weil du, Deutschland, uns nicht garantieren kannst, dass wir nicht die Nächsten sind.

Hanau bedeutet für Menschen mit Rassismuserfahrung, am 19. Februar Lippenbekenntnisse auf Social Media zu lesen und am nächsten Tag „zu sensibel“ genannt zu werden, wenn man Rassismus als solchen benennt. Weil die Empathie mit Betroffenen für viele da aufhört, wo man das eigene Handeln und Denken reflektieren muss. Wenn es plötzlich der eigene Rassismus ist, der thematisiert wird.

Hanau bedeutet für uns auch, zu wissen, dass sich nach dem nächsten rechtsextremen Terroranschlag wieder nichts ändern wird – wenn du, Deutschland, jetzt nicht endlich anfängst, uns ernst zu nehmen.

Hanau ist auch: ein Fallbeispiel für dein polizeiliches Versagen. 13 von 19 SEK-Beamten, die in Hanau im Einsatz waren, gehörten einer rassistischen und rechtsextremen Chatgruppe an. Die Angehörigen erfuhren erst nach stundenlangem Warten am Morgen nach der Tat von der Polizei, dass ihre Kinder, Brüder, Cousins tot waren. Die Hinterbliebenen erhielten eine Gefährderansprache – mit dem Hinweis, dass man in Deutschland keine Selbstjustiz ausübe und sie sich bitte nicht am Vater des Täters rächen sollen. Dieser übrigens lebt nur wenige Meter neben der Familie von Ferhat Unvar, einem der Opfer des rassistischen Terrors, und bedroht diese noch immer. Im September 2022 wurde der Vater des Täters wegen rassistischer Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt.

Es sind Zustände wie diese, die dazu führen, dass „Polizei“ nicht für alle Menschen gleich „Sicherheit“ bedeutet – sondern genau das Gegenteil.

Es sind Zustände wie diese, die dazu führen, dass „Polizei“ nicht für alle Menschen gleich „Sicherheit“ bedeutet – sondern genau das Gegenteil.

Ich muss dir ehrlich sagen, Deutschland: Deine Scheinheiligkeit tut mir weh. Während viele gar nicht genau wissen, wann der Jahrestag des Anschlags noch einmal genau war, graust es mir schon Wochen zuvor vor dem 19. Februar. Zu rassistischem Terror in Hanau schwingen deutsche Politiker:innen vor allem performative Reden. Du lebst in dem Glauben, im Grunde auf der „guten“ Seite zu stehen, also nicht rassistisch zu sein – während alle, die hier aufgewachsen sind, in einer Gesellschaft sozialisiert wurden, in der nicht-weiße Menschen jeden Tag mit Rassismus konfrontiert werden. Einer Gesellschaft, die nicht nur auf Hanau zurückblickt, sondern auch auf Halle, München, Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen. Doch du erkennst den Zusammenhang von rassistischen Mikroaggressionen und Gewalt noch immer nicht. Stattdessen tust du Rassismus als Randphänomen ab, um von der eigenen Verantwortung abzulenken.

Regelmäßig lese ich in den Medien, höre ich auf den Gedenkfeiern, dass „Fremdenfeindlichkeit“ nicht zu tolerieren sei in Deutschland, zum Beispiel vom damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Fremdenfeindlich? Deutschland, wir sind doch keine Fremden! Ich dachte, wir seien Freunde. Wir sind deine Student:innen, deine Ärzt:innen, deine Bäcker:innen, deine Friseur:innen, wir sind deine Kinder. Wir sind die, die dich mit aufgebaut haben, die dich prägen. Wir gehören doch zu dir – wieso dürfen wir uns nicht so fühlen? Du bist doch mein Zuhause – warum beschützt du mich nicht?

Deutschland, deine Politiker:innen wollen keine Gedenken an den Anschlag in Hanau in ihren Stadtzentren. In Hanau zum Beispiel wird immer noch gestritten darüber, ob es ein Denkmal für die Opfer des Anschlags auf dem Marktplatz geben wird, wie die Hinterbliebenen es sich wünschen.

Auf Twitter schreibt es sich leicht, dass „Rechtsextremismus eine Gefahr für unsere offene Gesellschaft“ sei. Gleichzeitig spricht der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz kurz nach Silvester bei Markus Lanz von „kleinen Paschas“, wenn er Menschen meint, deren Eltern oder Großeltern aus dem sogenannten Mittleren und Nahen Osten sowie Nordafrika stammen. Waren die Opfer in Hanau für den Täter genau das, „kleine Paschas“? Waren sie es für Friedrich Merz und jene, die ihm zustimmen? Und du, Deutschland, gibst dieser Stigmatisierung immer wieder eine gesellschaftlich anerkannte Bühne, oft widerspruchslos. Dabei beginnt Rassismus nicht erst, wenn ein Rassist auf die Idee kommt, Menschen zu erschießen, sondern wenn auf rassistische Worte kein Widerspruch kommt. Der Täter bekommt seine geistige Munition in unseren Talkshows, in unseren Parlamenten, auf unseren Familienfesten, in unseren WG-Küchen.

Für alle Mitglieder deiner Gesellschaft einzustehen, hieße, wirklich Verantwortung zu übernehmen

Wer unermüdlich arbeitet, wer keine Ruhe gibt, das sind die Angehörigen: Sie halten Reden, organisieren Ausstellungen, gründen Initiativen – wie die Bildungsinitiative Ferhat Unvar und die Initiative 19. Februar. Die Betroffenen können nichts für das, was passiert ist. Doch sie sind es, die – traumatisiert und ohne dafür entlohnt zu werden – am intensivsten dafür kämpfen, dass sich die Gesellschaft verändert. Dass du, Deutschland, dich veränderst. Das Wort Aufarbeitung enthält nicht umsonst das Wort „Arbeit“.

Für alle Mitglieder deiner Gesellschaft einzustehen, hieße, endlich wirklich Verantwortung zu übernehmen. Wir brauchen eine Rassismusstudie bei der Polizei. Müssen rechte Netzwerke bundesweit zerschlagen. Antirassistische Bildungsarbeit in allen Institutionen fördern. Initiativen von Betroffenen finanziell unterstützen. Wir brauchen verpflichtende diskriminierungssensible Trainings für Polizei und Psycholog:innen, für Mediziner:innen und Menschen in der Justiz, für alle Journalist:innen – und am besten auch für alle Arbeitgeber:innen. Besonders für diejenigen, die sich selbst nicht rassistisch finden und die offen daran zweifeln, wie verbreitet Rassismus auch in Deutschland ist – als wäre Rassismus bloß eine Frage der eigenen Meinung, als hätten Unbetroffene darüber die Deutungshoheit.

Die Erinnerungsorte der Hinterbliebenen so auszurichten, wie es sich die Angehörigen wünschen, wäre das Mindeste. Deutschland, stell die Familien und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt, frag sie: Welche Art von Erinnerung wünscht ihr euch? Wie soll die Gedenkfeier aussehen? Wer darf eingeladen werden? Deutschland, hör Betroffenen wirklich zu! Geht es dir wirklich um Aufarbeitung – oder um die eigene Selbstdarstellung?

Sedats Mutter sagt, sie fühlt sich von Deutschland um ein Leben betrogen. Hamzas Vater sah seinen Sohn acht Tage nach dessen Tod das erste Mal wieder – den Anblick und wie sein Sohn zugerichtet war, bekommt er bis heute nicht aus dem Kopf, so erzählt er es in einem Interview. Gökhans Bruder weiß, wie viel Gramm das Herz seines Bruders wiegt. Er weiß das, weil es ein Foto gibt, auf dem ein Pathologe eben dieses Herz in der Hand hält. Wie schwer liegt die Last auf den Schultern eines Bruders, der mit dieser Information weiterleben muss?

Deutschland, deine Blumen werden verwelken, deine Posts nach 24 Stunden nicht mehr sichtbar sein, deine Reden verhallen. Was bleibt dann noch? Erinnern heißt Verändern.

Team
Text Avin Khodakarim
Illustrationen FDE
Digitales Storytelling SZ Jetzt