Seit sechs Uhr morgens seien sie schon hier, sagen Mathilde und Michel, beide 22, beide Studierende hier am geisteswissenschaftlichen Campus der Universität Lille 3. Trotz des Nieselregens haben sie vor dem Haupteingang ein Gebilde aus Tischen und Stühlen gebaut, einen Bauzaun hergeschleppt, ein Plakat mit Großbuchstaben aufgehängt. "Contre Macron et les patrons" steht darauf, "gegen Macron und die Bosse". Wer ins Gebäude will, kommt hier nicht vorbei. Der einzige Weg in die Uni führt über den Professorenparkplatz, und auch dort stapeln inzwischen ein paar Studierende Stühle aus der Kantine übereinander.
"Es geht uns heute weniger um uns", sagt die Soziologiestudentin Mathilde, "es geht uns vor allem um Solidarität." Wie in ganz Frankreich wird an diesem Dienstag auch in Lille im Norden des Landes gegen die Rentenreform protestiert. Wie in ganz Frankreich treffen die Streiks nicht nur Bahnhöfe, Raffinerien und Atomkraftwerke, sondern auch Unis und Schulen. Gegen Macrons Rentenreform sind auch viele, die noch nicht einmal angefangen haben zu arbeiten.
"Wir wollen nicht leben, um zu arbeiten."
"Ich will heute grundsätzlich zeigen, dass ich gegen Macron und seine Regierung bin", sagt der Kulturwissenschaftler Michel: "Deren Politik zielt darauf ab, die Privilegien der eigenen Klasse zu erhalten. Aber ich denke auch an die, die ich kenne und die nicht dieser Klasse angehören."
Schon seit Wochen streitet Frankreich über die Rentenreform, die Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung durchsetzen wollen. Der Streik am Dienstag ist der sechste seit Januar. Mehrfach gingen mehr als eine Million Menschen auf die Straße, so viele wie seit Jahren nicht mehr. Und die Proteste beschränken sich nicht nur auf die Hauptstadt Paris, es gibt sie auch in den mittleren und kleinen Städten. So wie in Lille.
"Wir wollen nicht leben, um zu arbeiten", sagt Noam, 20, er studiert in Lille Geschichte. Auf seinem Pullover klebt ein roter Sticker der kommunistischen Studierendenvertretung. Dass Macrons Reformpläne weniger radikal sind als die Regelungen in vielen anderen Ländern, ist für ihn kein Argument. "Vielleicht sind wir in Frankreich schon weiter", sagt er. "Wir sind nicht zu faul zum Arbeiten, aber wir wollen auch irgendwann damit aufhören, um von der Rente profitieren zu können."
Rente soll es künftig erst mit 64 Jahren geben
Die Pläne der französischen Regierung sehen vor, das gesetzliche Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre zu heben und die Beitragsdauer schneller als bisher geplant auf 43 Jahre zu erhöhen. Außerdem sollen die Spezialregelungen für viele Berufsgruppen künftig wegfallen. Noch immer sind Umfragen zufolge mehr als die Hälfte der Französinnen und Franzosen gegen die Reform.
Trotz der Kritik hält die Regierung an ihren Plänen fest. Das Reformvorhaben ist längst auf dem Weg durch die Institutionen. Nach einer ergebnislosen Debatte in der Nationalversammlung ist es inzwischen im Senat angekommen, anschließend dürfte ein Vermittlungsausschuss mit Vertretern aus beiden Kammern darüber entscheiden. Dass der Gesetzestext auf diesem Weg noch scheitert, ist unwahrscheinlich. Am 26. März sind die Debatten in beiden Kammern endgültig zu Ende. Umso höher sind die Erwartungen an die Proteste auf der Straße.
Für die Gewerkschaften und die linke Opposition ist dieser Tag zentral. Kaum eine Vokabel schien ihnen im Vorfeld des Streiks zu groß, von einer "Totalblockade" war die Rede, von einem "sozialen Tsunami" und einer "in die Knie gezwungenen Wirtschaft". Noch mehr Teilnehmende als bei allen Demos zuvor war das ausgewiesene Ziel. Am Ende gingen nach Angaben des französischen Innenministeriums 1,3 Millionen Menschen auf die Straße - und damit etwa genau so viele wie beim letzten Rekordtag am 31. Januar.
"Das ist das einzige Mittel, das uns noch bleibt", sagt der 22-jährige Maxence. Er ist zusammen mit ein paar älteren Kollegen an den großen Kreisverkehr gekommen, an dem der Streikzug am Nachmittag in Lille startet. Eine Gruppe kommt in orangenen Gewerkschaftswesten, alle arbeiten sie bei einem Stahlhersteller in der Region. "Ich bin im Schichtdienst und arbeite nachts und am Wochenende, das will ich nicht bis Mitte 60 machen", sagt Maxence, "und wer weiß, was die Regierung noch vorhat, vielleicht muss ich noch länger arbeiten." Er trägt wie die anderen eine Weste der Gewerkschaft CFDT, auch wenn er der eigentlich gar nicht angehört. Es ist das erste Mal, dass er streikt.
Zum ersten Mal seit dem Beginn der Proteste gegen die Rentenreform könnte der Generalstreik verlängert werden. Die Eisenbahngesellschaft SNCF und die Pariser Verkehrsbetriebe haben bereits angekündigt, dass auch am Mittwoch noch zahlreiche Züge und Metros ausfallen sollen. Die Studierenden auf dem Campus der Uni Lille wissen noch nicht genau, ob sie ihren Streik verlängern werden. Sie wollen erst mal ihre Generalversammlung abwarten.