SPD-Slogan im Europawahlkampf:Ein Fall für die Sprachmüllabfuhr

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Parteichef Sigmar Gabriel vor dem neuen Wahlkampf-Slogan der SPD (Foto: Getty Images)

Ach, die SPD und der Wahlkampf. Nach "Das Wir entscheidet" fällt den Genossen zur Europawahl der Slogan "Europa neu denken" ein. Dabei wird schon jetzt viel zu viel "neu gedacht" statt nachgedacht.

Von Michael König

Die SPD war mal richtig gut in Sachen Wahlkampf, aber das ist eine Weile her. Zuletzt lachte sich die Konkurrenz scheckig, als die Sozialdemokraten erst völlig überstürzt Peer Steinbrück zu ihrem Kanzlerkandidaten machten, ohne Rücksicht auf seine stattlichen Vortragshonorare. Und dann dieser Slogan: "Das Wir entscheidet." Das war nicht nur umständlich formuliert, sondern auch noch abgekupfert. Ausgerechnet von einer Leiharbeitsfirma. Dabei wollte die SPD doch Leiharbeit eindämmen, herrje!

Steinbrück ist nicht Kanzler geworden, die SPD hat die Bundestagswahl krachend verloren, aber was soll's: Schon bald gibt es eine neue Chance auf einen Wahlerfolg. Ende Mai wird das Europäische Parlament neu gewählt. Die SPD hat diesmal in Martin Schulz einen Spitzenkandidaten, der - gemessen an anderen Europapolitikern - beinahe herausragende Bekanntheitswerte hat. Und der Slogan, der ist diesmal ... wieder so ein Schmarrn. Oder auch "Sprachmüll" und eine "Hohlformel", um den Linguistik-Professor Joachim Scharloth von der Uni Dresden zu zitieren.

Ein Mann, der kämpft

Der neue SPD-Slogan lautet "Europa neu denken" und war am vergangenen Wochenende auf dem Bundesparteitag in Berlin erstmals in voller Größe zu bewundern. Verantwortet hat ihn Wahlkampfleiter Matthias Machnig, der 1998 Gerhard Schröder ins Kanzleramt gebracht hat. 2013 gehörte Machnig zu Steinbrücks "Kompetenzteam", und als ihn der Spiegel deswegen porträtierte, da wünschte sich Machnig eine Überschrift für den Artikel: "Ein Mann, der kämpft."

Das war kurz, das war knackig, das war leicht verständlich. Viel besser als "Ein Mann, der googelt" oder "Ein Mann, der im Duden nachschlägt". Oder?

Im Hinblick auf den Slogan zum Europawahlkampf wäre beides vielleicht empfehlenswert gewesen. Die Suchmaschine spuckt gut 70.000 Ergebnisse zu "Europa neu denken" aus, und zu "neu denken" ohne Europa sogar 422.000. Dem Google-Analyse-Tool Ngram Viewer zufolge tauchte die Formulierung erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts in deutschsprachigen Büchern auf, ehe sie wieder verschwand. Seit 1990er Jahren grassiert und wuchert das "neu denken" jedoch wie eine schlimme Infektionskrankheit.

Häufigkeit der Formulierung "neu denken" in deutschsprachiger Literatur laut Google (Foto: Screenshot: Google)

Einige Beispiele:

  • "Die Schule neu denken" ist ein Klassiker der Reform-Pädagogik aus dem Jahr 1993
  • Die Uni Flensburg wollte 1999 den "Physikunterricht neu denken" ...
  • ... die FDP zehn Jahre später die "Freiheit neu denken"
  • Nach Fukushima wollte der damalige CDU-Umweltminister Norbert Röttgen die "Sicherheit neu denken"
  • Das Bundesministerium für Bildung und Forschung will Elektromobilität weiterentwickeln und "das Auto neu denken"
  • Religion? Auch neu gedacht: Die Autorin Katajun Amirpur will "den Islam neu denken", die Deutsche Bischofskonferenz "das Soziale neu denken"
  • Ein gewisser Sigmar Gabriel, damals Bundesumweltminister, heute SPD-Chef, schrieb 2008 ein Buch namens "Links neu denken"
  • "Zukunft neu denken", das Handelsblatt macht es möglich
  • "Alter neu denken", auch das geht, dank der Bertelsmann-Stiftung
  • Den totalitären Ansatz wählte 2012 der Axel-Springer-Verlag mit einer Werbekampagne: "Die Welt gehört denen, die neu denken."

Alle denken neu, aber keiner denkt mehr nach. Etwa darüber, welches Wort die deutsche Sprache vorsieht, wenn jemand ein Thema neu bewertet, indem er seinen kognitiven Apparat einsetzt: "überdenken", steht im Duden. Sowie "überschlafen" (umgangssprachlich), "beschnarchen" (salopp) oder auch "ventilieren" (bildungssprachlich).

Warum nicht "Europa überdenken"? Das wäre angesichts der Euro-Krise und stetig sinkender Wahlbeteiligung sicher angebracht, aber der Dresdner Linguistik-Experte Scharloth rät davon ab: "Kombinationen mit 'über' haben Bedeutungen, die eher nicht positiv sind. Denken Sie an überkorrekt, überlesen, überhören, übersteigern."

Dann lieber Sprachmüll? "Na ja, die Formulierung ist nicht unklug gewählt", sagt Scharloth. "'Neu' ist immer gut. Und gegen 'denken' kann auch niemand etwas haben." Bislang gebe es kein Bewusstsein dafür, dass es sich bei "neu denken" um Sprachmüll handle. Zudem "agiert Werbung mit dem Verstoß gegen Normen".

Innovativ geht anders

Okay, okay. Bleibt noch die Frage, ob die SPD nicht über einen neueren Slogan neu hätte denken müssen. "Europa neu denken", das war 1999 schon der Titel eines Buches von Hans Arnold, ehemals Diplomat und Büroleiter von Willy Brandt. Auch eine Ausgabe von Concilium, der "internationalen Zeitschrift für Theologie", war 2004 so benannt. Oder auch ein Positionspapier des Verbandes der Familienunternehmer, erschienen 2009.

Innovativ geht anders, Herr Machnig. Wobei "geht anders" auch nicht viel besser ist. "Gerecht geht anders" (Verdi), "Liebe geht anders" (ein Roman), "Zukunft gestalten geht anders" (die Jusos), "Lernen geht anders" (Körber-Stiftung), "Männerfußball geht anders" ( Fußball-Woche) und so weiter.

Die SPD-Konkurrenz von der Linken hat das freilich nicht davon abgehalten, ihr Wahlprogramm so zu betiteln: "Europa geht anders." Da hätten sie wohl besser noch mal neu gedacht.

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