Esken und Walter-Borjans als Parteivorsitzende:SPD-Basis entscheidet sich für das ganz große Experiment

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Posieren für die Fotografen: Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. (Foto: Fabrizio Bensch/Reuters)

Esken und Walter-Borjans können ihr Glück kaum fassen. Scholz dagegen muss das Ergebnis als Misstrauensvotum lesen. SPD und Regierung stehen mit einem Schlag vor unruhigen Wochen.

Von Stefan Braun, Berlin

Zack. Jetzt ist es passiert. Die SPD-Basis hat sich für das Neue, das Unbekannte, das Experiment entschieden. Und der erste Blick im Moment dieser Entscheidung gilt an diesem Abend nicht den Siegern, sondern dem großen Verlierer. Olaf Scholz steht auf der Bühne des Willy-Brandt-Hauses und müht sich um Fassung. Vor wenigen Minuten hat er erfahren, dass die Mehrheit der SPD-Mitglieder sich nicht für ihn, sondern für die Konkurrenz entschieden hat. Das ist keine Niederlage, die man mal eben wegstecken könnte. Dieser Niederschlag im Moment seiner größten Macht als Finanzminister und Vizekanzler ist ein Misstrauensvotum, das in die Geschichte eingehen dürfte.

Und so steht Scholz mit eingefrorenen Gesichtszügen auf der Bühne und findet nur wenige Worte. Ja, auch er gratuliere den Siegern. Die SPD habe eine Entscheidung getroffen. Und hinter der müssten sich jetzt alle versammeln. "Ich wünsche Euch alles Gute für die SPD, die unsere gemeinsame Sache ist." Im Übrigen: "Alles Gute!" Es ist die bitterste Niederlage von Scholz in der SPD. Er hat öfter mal mittelmäßige Wahlergebnisse in der Partei eingefahren. Aber das jetzt toppt alles. Und wird Folgen haben. Auch wenn die in den ersten Minuten noch unkonkret bleiben.

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Seine Mitstreiterin Klara Gewyitz lächelt derweil so traurig, dass man Mitleid haben kann. Sie erklärt, dass natürlich gelte, was man vorher gesagt habe und was nun "wahr und wirklich" geworden sei: dass man als Verlierer die Sieger unterstützen werde. Ja, das sei für die SPD "eine schwierige Situation". Umso mehr gelte es jetzt, zusammenzubleiben.

Ganz so bitter empfinden andere das Ergebnis nicht. Als die kommissarische Vorsitzende Malu Dreyer wenige Minuten nach 18 Uhr das Ergebnis - 53 zu 45 - verkündet, brandet Jubel auf im Willy-Brandt-Haus. Es sind nicht die Sieger, die sich da selbst applaudieren. Es sind Dutzende Ehrenamtliche, die am Nachmittag für die SPD das Ergebnis ausgezählt haben. Sie jubeln so sehr, dass man fast denken könnte, die SPD habe irgendeine Wahl gewonnen.

Alles wirkt plötzlich radikal offen. Die Zukunft der SPD sowieso, vor allem aber auch das Überleben der großen Koalition

Davon aber ist sie noch weit entfernt. Wie weit, das scheint in diesem Moment Lars Klingbeil durch den Kopf zu gehen. Während um ihn herum Beifall aufbrandet, wirkt der SPD-Generalsekretär wie in Trance angesichts der Sorge, was nun alles bevorstehen könnte. Klingbeil zählt natürlich zu dem, was man in der SPD bislang die "Parteispitze" genannt hat. Und die hat mit diesem Abend eine schwere, vielleicht historische Schlappe erlitten.

Alles wirkt plötzlich radikal offen. Die Zukunft der SPD sowieso, vor allem aber auch das Überleben der großen Koalition. Und so kann man in diesem Moment kurz nach der Verkündung im Willy-Brandt-Haus in vielen Gesichtern vor allem eine Frage lesen: Und was wird jetzt?

Das gilt selbst für die beiden Gewinner, die ihr Glück fürs Erste kaum fassen können. Saskia Esken, die Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg, und Norbert Walter-Borjans, der Ex-Finanzminister aus Nordrhein-Westfalen, schauen kurz nach 18 Uhr, als Sieger und Verlierer auf die Bühne gebeten werde, derart ernst drein, dass sie ohne Ton glatt als Verlierer hätten durchgehen können. Erst nach dem kurzen gemeinsamen Auftritt aller, als sich Esken und Walter-Borjans für die Fotografen an die Rampe stellen, strahlen sie mit einem Mal so sehr, als hätten sie an diesem 30. November entdeckt, dass Weihnachten und Ostern doch noch auf einen Tag fallen. Keiner weiß in diesen Minuten, was das Votum bedeutet: Ist es das Ende der Koalition? Ist es das politische Ende des Bundesfinanzministers? Oder kommt doch noch alles ganz anders als viele beim Blick auf dieses Duo wahlweise gehofft oder befürchtet haben? In diesem Augenblick wagt das hier niemand zu sagen.

Alle aber wissen natürlich, dass Esken und Walter-Borjans von starken Kräften unterstützt wurden, die genau das möchten: den Ausstieg aus der Koalition als Einstieg in den Neuanfang. Ob nun Juso-Chef Kevin Kühnert oder der Landesverband Nordrhein-Westfalen - beide sind seit Längerem auf Krawall gebürstet und halten die große Koalition nicht für eine Chance, sondern für ein Gefängnis. Und nach diesem Ergebnis muss die bisherige SPD-Führung damit rechnen, dass sie diese Linie auch auf dem Parteitag in einer Woche mit Verve vortragen werden.

Sofort raus aus der großen Koalition? Die beiden Gewinner kündigen neue Bedingungen an die Union an

Ob Esken und Nowabo, wie Walter-Borjans von vielen Sozialdemokraten längst genannt wird, das genauso sehen, ist nicht sicher. Sie haben diese Linie zuletzt allenfalls angedeutet. Nach der Bekanntgabe des Mitgliedervotums sagt Esken auf Nachfrage im TV-Sender Phoenix, sie wolle dem Parteitag nicht vorgeben, wie er über die schwarz-rote Koalition zu entscheiden habe. Sie wolle auch die 45 Prozent beachten, die Geywitz und Scholz gewählt haben. Walter-Borjans sagt in dem Interview, über die Zukunft der Koalition würden inhaltliche Punkte und deren Dringlichkeit entscheiden. Er nennt Klima, Investitionen und das Auseinanderdriften der Gesellschaft als Themen. Neue Bedingungen also, aber einen sofortigen Ausstieg erwähnen sie hier nicht.

Esken und Walter-Borjans müssen nun mit einem Mal überlegen, wie sie mit der neuen Verantwortung umgehen. Bislang war alles, was sie taten, schönes Reden. Jetzt lastet plötzlich die Pflicht auf ihren Schultern, den ganzen Laden zusammenzuhalten. Von nun an müssen die Angreifer integrierend wirken. Das ist so ziemlich das Einzige, was sie an diesem Abend immer wieder deutlich machen: "Wir müssen jetzt zusammenbleiben." Esken lobt einen "ziemlich, ziemlich großartigen Wettstreit"; die 58-Jährige bedankt sich bei Freunden und Familien, die ihnen den Rücken gestärkt hatten. Und dann spricht sie fast nur noch darüber, dass sie jetzt "beide Hände ausstrecken" zu den Verlierern und ihren Wählern. Der 67-jährige Walter-Borjans ergänzt das mit einem großen Dank an Geywitz und Scholz. Mit beiden sei der Wettbewerb hart gewesen, aber immer auf eine Art und Weise geführt worden, die "das begründet hat, was jetzt auch folgen muss: Dass wir zusammenbleiben."

Was sonst noch passieren wird, lassen beide erst mal offen. Fest steht nur eines: dass die kommissarische Führung in Person von Malu Dreyer dem Parteitag in einer Woche empfehlen wird, Esken und Walter-Borjans zu wählen.

So wichtig das Votum der Basis sein mag - die Stimmung in der Bundestagsfraktion ist eine ganz andere

Vor einer ganz anderen Entscheidung steht Olaf Scholz. Mit dieser Niederlage droht ihm der baldige Abschied - sofern er den nicht selbst ankündigt. Zumal er verhindern muss, jetzt spaltend zu wirken. Nicht nur Malu Dreyer hat in den letzten Tagen dafür geworben, alle mögen das Ergebnis als ein demokratisches Votum anerkennen. Ein Bundesfinanzminister, der nach der Niederlage einfach weitermachen würde, könnte schnell in den Verdacht geraten, er widersetze sich dem Votum der Basis.

Vorerst beschützen könnte ihn nur der unbezweifelte Zwang der Sieger, nicht sofort in eine Konfrontation mit ihren Gegnern zu gehen. So wichtig das Votum der Basis sein mag - die Stimmung in der Bundestagsfraktion ist eine ganz andere. Hier will die übergroße Mehrheit nicht aussteigen aus der Koalition, sondern weitermachen. Und das aus Überzeugung und aus existenziellen Sorgen. Ein Ausstieg nämlich würde sehr wahrscheinlich zu Neuwahlen führen und könnte für viele bei den jetzigen Umfragewerten die Karriere als Parlamentarier beenden.

Esken und Walter-Borjans stehen also vor der sehr heiklen Aufgabe, die Hoffnungen auf einen Neuanfang nicht zu enttäuschen - und zugleich den großen Konflikt mit der Fraktion zu vermeiden. Das dürfte ein Balanceakt werden, den sie bis zum Parteitag in einer Woche ausbalancieren müssen. Bis jetzt haben sie nur eine Botschaft: Lasst uns nun gemeinsam marschieren.

Die Gemeinsamkeit sieht eine halbe Stunde nach Verkündung freilich so aus, wie man es erwarten konnte. Die Sieger geben lange Interviews und noch mehr Erklärungen hinter den Kulissen. Die Verlierer haben zu dem Zeitpunkt das Willy-Brandt-Haus längst verlassen. Still und leise und dort, wo sie allen weiteren Fragen und allen Kameras aus dem Weg gehen konnten.

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