Münchner Sicherheitskonferenz:Den Konsens erkunden

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Die Pandemie und jede Menge Krisen, allen voran jene um die Ukraine, erzeugen im Westen ein Gefühl von Überwältigung. Die verkleinerte 58. Sicherheitskonferenz befasst sich nun mit der Befreiung aus der Hilflosigkeit .

Von Stefan Kornelius

Wenn Nostalgiker im harten Gewerbe der Außen- und Sicherheitspolitik über die Münchner Sicherheitskonferenz - vulgo Wehrkunde - sprechen, dann schwingt verklärende Erinnerung mit: Ein Klassentreffen der westlichen Weltenlenker war das, oder zumindest kamen wenige Dutzend (in der Regel) Männer, die im außen- und sicherheitspolitischen Apparat Verantwortung trugen. Denn: Weltenlenker kamen damals nicht so sehr nach München, eher ihre Stabschefs, Verteidigungsminister oder die Generale. Weniger als hundert von ihnen saßen dann in einem Hotelsaal in langen Reihen, am Abend gab es ein bayerisches Essen, und wenn zufällig eine Karnevalsveranstaltung im Nachbarsaal abgehalten wurde, konnte es sogar lustig werden. Die wenigen Fachjournalisten warteten geduldig vor der Tür und gingen mittags zum Griechen. Eine Welterklärungsindustrie der Think Tanks mit ihren Instant-Analysen und Forecasts gab es noch nicht wirklich.

Die Intensität dieser Treffen ging über die Jahre verloren, der Charakter als interne Diskussionsrunde von Nato-Mitgliedern ebenfalls. Sicherheitspolitik wurde zum Welten-Tetris, und im Wort- und Denkschatz wurde das Prinzip der Abschreckung von Begriffen wie global commons oder defacement abgelöst. Das steht für das Gemeinschaftseigentum der Menschheit am Planeten, das andere für den propagandistischen Missbrauch von Webseiten.

Deshalb könnte es in diesem Jahr fast schon revolutionär zugehen, wenn die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) im zweiten Pandemiewinter ein unerhörtes Experiment eingeht: Sie wird kleiner und fokussierter. Was noch kein Konferenzorganisator in der 59-jährigen Geschichte der Veranstaltung geschafft hat, gelingt nun der Omikron-Variante. Die Zahl der Gäste schrumpft um zwei Drittel, was allerdings in absoluten Zahlen noch immer gewagt klingt. Rund 500 Außen- und Sicherheitspolitiker werden sich von diesem Freitag an in die Impf- und Testblase begeben, täglich überprüft und mit den westlichen Vakzinen versehen, isoliert im Hotel Bayerischer Hof und einigen anderen Übernachtungshotels.

Treffen der Weltenlenker: Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der russische Außenminister Sergej Lawrow bei der Sicherheitskonferenz 2017. Jetzt boykottiert Russland die Tagung. (Foto: Johannes Simon/Getty Images)

2021 war die Konferenz noch ausgefallen, nur notdürftig ersetzt durch Video-Peptalks des gerade gewählten US-Präsidenten Joe Biden und anderer Staatsgrößen. In diesem Jahr erlaubten die Gesundheitsbehörden ein kontrolliertes Mittelgroßereignis. Für eine gemeinnützige Stiftung wie die Münchner Sicherheitskonferenz entscheidet die Hauptveranstaltung im Jahreskalender nicht über die wirtschaftliche Stabilität, sondern vor allem über die politische Relevanz. Denn dies ist der ironische Teil der Pandemie: Je länger sie dauert, desto größer werden die sicherheitspolitischen Probleme und der Bedarf nach einer Diskussion darüber - und da ist die Ukraine-Krise noch gar nicht eingeplant.

Im Jahr eins nach Trump ist man nervös wegen der Ukraine und dem Zustand der Demokratien

Weil Reden einen nicht kleinen Teil des Handwerks von Außen- und Sicherheitspolitikern ausmacht, ergibt sich der Wert einer solchen Konferenz aus ihrer Existenz. 106 Staats- und Regierungschefs, Minister und fast zwei Dutzend Organisationschefs, angeführt von UN-Generalsekretär António Guterres, kommen eben nicht nach München, weil sie dringend mal im Hotel übernachten wollen. Die Konferenz bietet ihnen die perfekte Gelegenheit, zweieinhalb Tage lang ein Gesprächspensum abzuwickeln, für das sonst viele Reisewochen nötig gewesen wären. Den Charakter einer offenen Expertenberatung hat das Treffen zwar verloren, dazu sitzen zu viele Zuhörer im Saal. Aber in unzähligen Kleinkreisen und Fachgesprächen geht es immer wieder um die Erkundung des Konsenses und um die Sensibilisierung für neue Themen. Als vor zwei Jahren der Chef der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Ghebreyesus, und RKI-Chef Lothar Wieler in einer kleinen Seitenveranstaltung über die Gefahren einer Pandemie sprachen, verirrten sich nur wenige Zuhörer in den Saal. Das wird in diesem Jahr nicht passieren.

Die Themen der Pandemiekonferenz ergeben sich von alleine: Die von Russland provozierte Ukraine-Krise und die Pandemie-Folgen im weitesten Sinn bestimmen die Sicherheitslage in der Welt. Betrachtet man die Grundbefindlichkeit genauer, sind es im Jahre eins nach Donald Trump der bis heute nicht gestoppte Niedergang der westlichen Demokratien und der regelbasierten Ordnung, die den Westen nervös werden lassen. In der Umkehrung heißt das: Autokraten erfreuen sich nach wie vor ihrer Sonderkonjunktur, der Regelbruch wird stets belohnt. Dieses Gefühl der Überwältigung durch Krisen und Konflikte hält den Westen also im Griff, seine Institutionen sind verzagt, die Rückkehr der klassischen Bedrohungspolitik in der Ukraine lehrt, dass gutes Zureden alleine den Frieden nicht aufrechterhält.

Dieses kollektive Gefühl der Depression greift die Sicherheitskonferenz in ihrem überwölbenden Motto auf und gibt die Parole aus: "unlearning helplessness" - die Befreiung aus der Hilflosigkeit also. Die Analyse: Die depressive Grundhaltung kann schnell in Selbstaufgabe umschwappen, was für die Behauptung demokratischer Systeme enorm gefährlich ist.

Konferenzleiter Wolfgang Ischinger gibt sich "ernsthaft besorgt", weil sich nicht nur Krise an Krise reiht, sondern weil in dieser Stimmung die regelbasierte Ordnung erodiert. "Die UN sind nicht handlungsfähig, die EU ist auf sich selbst fokussiert, und wenn Putin das nicht getan hätte, wäre die Nato wahrscheinlich auch vor der Erosion." Diese "kollektive Hilflosigkeit" wolle die Konferenz sichtbar machen - und im Idealfall zu einem Aufbruch verhelfen, so Ischinger. Rezepte wie eine "Allianz der Multilateralisten" oder ein "Gipfel der Demokratien" reichten nicht mehr, sagt er und hofft, dass die Bundesregierung nach schwieriger Startphase und Frankreich nach der Präsidentschaftswahl das Schicksal der Europäischen Union ernst nähmen. Und dass ein Grundprinzip kollektiver Sicherheit wieder in den Mittelpunkt rückt: "Die Idee der Abschreckung - das Rüstzeug der Sicherheit, muss wieder erklärt und mit Leben erfüllt werden. Das ist wichtig für die Kriegsverhütung. Mit Dialog alleine sind nur sehr wenige Kriege verhindert worden."

Wolfgang Ischinger übergibt die Konferenz an ihren neuen Chef Christoph Heusgen

In München wird also eine Menge Selbstvergewisserung stattfinden neben der üblichen Untergangsanalyse. Eine Tagung als Therapiesitzung - an deren Ende auch noch der Cheftherapeut selbst abgelöst wird. Ischinger, Konferenzchef seit 2008, übergibt mit 75 Jahren die Leitung an den neun Jahre jüngeren Christoph Heusgen, der nach dem Gründer Ewald von Kleist und dessen Nachfolger Horst Teltschik der erst vierte Vorsitzende der MSC sein wird. Heusgen war zwölf Jahre lang außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie Ischinger bringt er ein dichtes Kontaktnetz aus aller Welt mit und muss nirgendwo vorgestellt werden.

Wolfgang Ischinger. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Heusgen, zuletzt Botschafter bei den Vereinten Nationen, übernimmt einen von Ischinger komplett neu gestalteten Konferenzapparat inklusive der etwa 60 jungen und hoch engagierten Mitarbeiter. Ischinger hatte die Sicherheitskonferenz nicht nur zur Marke gemacht, sondern die Traditionsveranstaltung von der Rechtsform bis zum Programm radikal verändert. Dass er viel von strategischer Weitsicht versteht, bewies er gleich zu Beginn, als er die unklare Rechtssituation der Konferenz beendete und die Veranstaltung mit 20 000 Euro Eigenkapital auf seinen Namen als gemeinnützige GmbH eintragen ließ. Das verschaffte ihm die Handlungsfreiheit, private Sponsoren und Stiftungen zur Finanzierung zu motivieren und nicht allein vom Hauptsponsor Bundesregierung abhängig zu sein.

Der neue Chef: Christoph Heusgen, zuvor deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen, leitet von nun an die Münchner Sicherheitskonferenz. (Foto: Ralf Hirschberger/dpa)

Weil die Konferenz am Ende aber kein Privateigentum sein kann, gründete Ischinger im zweiten Schritt eine gemeinnützige Stiftung, in die er die GmbH einbrachte. Zustifter waren dann unter anderem die Bundesregierung, die Bayerische Staatsregierung und die Robert-Bosch-Stiftung mit beachtlichen Zahlungen in den Stiftungstopf. Ischinger bleibt der Konferenz als Vorsitzender des Stiftungsrats, dem höchsten Gremium, erhalten. Als ein Art Aufsichtsratschef behält er das Vorschlagsrecht für die Besetzung der Vorsitzenden-Posten. Und weil die Bundesregierung angesichts ihres Stiftungsvolumens ein ordentliches Mitspracherecht für sich reklamiert, wurde die Personalie Heusgen auch von der Ampelkoalition abgenickt. Die Übergabe im Chef-Amt soll am Wochenende auf offener Bühne vollzogen werden - als kleines Zeichen für alle Dauerherrscher in der Welt, dass ein Wechsel nicht wehtut.

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