Krieg in der Ukraine:"Wo bleibt die Sicherheit?"

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"Die Ukraine braucht Frieden, Europa braucht Frieden und die Welt braucht Frieden." Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij forderte im UN-Sicherheitsrat eine Reform des Gremiums. (Foto: John Minchillo/dpa)

Der ukrainische Präsident fordert den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf, Russland wegen Kriegsverbrechen aus dem Gremium zu werfen. Es kämen immer weitere Massaker ans Licht.

Von Fabian Fellmann, Washington

Die Verzweiflung war Wolodimir Selenskij anzuhören. "Wo bleibt der Sicherheitsrat, wenn man ihn braucht?", fragte der ukrainische Präsident am Dienstag vor dem mächtigen Gremium der Vereinten Nationen. Der Auftritt war eine seiner Videoreden aus dem Bunker, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben mit ihrem eigenartigen Kontrast aus militärisch-nüchternem Bildausschnitt und Selenskijs eindringlichen Bitten, in denen es buchstäblich stets um Leben und Tod geht.

Der ukrainische Präsident warf dem Sicherheitsrat vor, zu versagen. Dieser soll Frieden auf der Welt und die Einhaltung des internationalen Rechts garantieren, damit nicht nur das Recht des Stärkeren gilt. "Wo ist die Sicherheit, die der Sicherheitsrat garantieren müsste?", fragte Selenskij, und fügte die Antwort selbst hinzu. "Es gibt die Sicherheit nicht. Obwohl es einen Sicherheitsrat gibt." Das Gremium müsse daher dringend reformiert werden, forderte er.

Drei mögliche Lösungen schlug Selenskij vor: Den Beweis, dass Reform oder Veränderung möglich seien, den Ausschluss Russlands, das als ständiges Mitglied jede Entscheidung blockieren kann, oder die komplette Auflösung des Rates. Auch die gesamten Vereinten Nationen bräuchten Veränderung. Selenskij schlug dafür unter anderem eine große "globale Konferenz" in Kiew vor. "Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um der nächsten Generation eine effektive UN zu übergeben."

Was dieses Versagen der Vereinten Nationen bedeutet, veranschaulichte Selenskij mit einer Videocollage. Auch das hat er schon bei anderen Videoansprachen gemacht, und mit jedem Mal kommen neue Bilder hinzu, die noch grauenvoller erscheinen. Inzwischen sind auch Aufnahmen aus Butscha dabei, dem Vorort von Kiew, aus dem sich russische Truppen am 31. März zurückgezogen haben. Selenskijs Video zeigte tote Kinder, in Massengräbern verscharrte Frauenleichen, verbrannte Leichen auf den Straßen.

Butscha sei nur einer unter vielen Orten

"Sie haben Glieder abgetrennt, Kehlen durchgeschnitten, Frauen vergewaltigt und vor ihren Kindern umgebracht. Ihre Zungen wurden herausgerissen, weil die Aggressoren nicht zu hören bekamen, was sie hören wollten", sagte Selenskij. Und in jedem Ort, den die ukrainischen Truppen zurückeroberten, entdeckten sie Zeugnisse noch schlimmerer Kriegsverbrechen. Das Massaker in Butscha sei nur eines von vielen Beispielen. "Es gibt viele weitere Ortschaften, ähnliche Orte, über welche die Welt erst noch die volle Wahrheit erfahren muss."

Die Vereinten Nationen haben seit dem Einmarsch russischer Truppen den Tod von 1480 Zivilisten in der Ukraine dokumentiert. Zudem seien 2195 Zivilisten verletzt worden, sagte die UN-Beauftragte für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, vor dem UN-Sicherheitsrat. Sie bezog sich dabei auf Zahlen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte in Genf (OHCHR). Dabei handele es sich allerdings nur um die dokumentierten Opferzahlen. "Das OHCHR glaubt, dass die eigentlichen Zahlen deutlich höher liegen."

Selenskij verlangte, die Befehlshaber auf der russischen Seite und die Ausführenden vor ein internationales Gericht zu stellen, ähnlich jenem von Nürnberg für die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Verfahren wegen Verdachts auf Kriegsverbrechen hat der Internationale Strafgerichtshof eingeleitet.

Die Vertreter der westlichen Länder drückten ihr "Entsetzen" über die Gräueltaten aus. Auch Chinas und Indiens Botschafter, die es sich mit Russland zumindest nicht verderben wollen, verlangten eine Untersuchung über die Vorwürfe - allerdings bemühten sich beide, Russland nicht direkt für die Massaker verantwortlich zu machen.

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Die amerikanische UN-Botschafterin verlangt Russlands Ausschluss aus dem Menschenrechtsrat

Andere waren weniger zurückhaltend. Russland habe die Kontrolle über Butscha gehabt, als die Massaker verübt wurden, also sei es dafür auch verantwortlich, sagte die irische UN-Botschafterin. Russland habe Butscha zu einem Friedhof gemacht, hielt der albanische Vertreter fest. Der Botschafter Kenias befürchtete, Russland erstelle in der Ukraine gerade die Blaupause für die nächste Generation von Kriegen. Nicht zum ersten Mal habe sich der Sicherheitsrat dabei als untätig erwiesen und seinen Nutzen in Frage gestellt: Auch als sich in Ruanda der Genozid anbahnte, hätten die Vereinten Nationen machtlos zu gesehen. Auch er forderte eine Reform des Sicherheitsrats.

Wenigstens aus dem Menschenrechtsrat müsse Russland entfernt werden, verlangte die amerikanische UN-Botschafterin. Russlands Teilnahme untergrabe die Glaubwürdigkeit des Rats. "Sie ist einfach nur falsch", sagte Linda Thomas-Greenfield. Der Stadtrat von Mariupol habe von "Filtrationscamps" von russischen Truppen berichtet; durch diese Lager würden Ukrainer nach Russland umgesiedelt. "Ich muss nicht ausführen, woran uns diese 'Filtrationslager' erinnern."

Das seien alles Lügen, um Russland schlechtzumachen, hielt dem der russische Botschafter Wassili Nebensja entgegen. Als die russischen Truppen Butscha am 31. März verlassen hätten, hätten in den Straßen des Ortes noch keine Toten gelegen. Danach sei die ukrainische Armee angerückt, habe selbst Leichen ausgelegt und sie fotografiert. "Die Ukraine hat die Leichen inszeniert. Wir hätten uns besser gar nicht zurückziehen sollen", sagte Nebensja und wiederholte die Behauptung des Kreml, Russland wolle dauerhaften Frieden in die Region bringen. Ziel sei, "den Tumor ukrainischen Nazitums herauszuschneiden". Die Ukrainer forderte er auf, sich rasch Russland anzuschließen. "Der Westen ist entschlossen zu kämpfen bis zum letzten Ukrainer", sagte Nebensja, und drohte: "Entscheidet euch jetzt, es könnte bald zu spät sein."

Als Beleg für das gute Verhalten der russischen Soldaten zitierte Nebensja ein Interview mit einer ukrainischen Zivilistin, die Dosen mit Essen erhalten habe. Und wurde vom ukrainischen UN-Botschafter Serhij Kyslyzja düpiert: Er las wenige Minuten später die gesamte Passage vor - in der die Frau sagte, die Soldaten hätten dem Essen Granaten hinterhergeworfen. Kyslyzja erinnerte Nebensja daran, dass in den Nürnberger Prozessen auch Diplomaten des Nazi-Regimes zum Tode verurteilt worden seien.

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