Italien:"Stellt euch vor, Mariupol wäre Genua"

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij ist am Dienstag per Video einer Sitzung des italienischen Parlaments zugeschaltet. (Foto: Roberto Monaldo/dpa)

Wolodimir Selenskij spricht zum italienischen Parlament - nicht alle Reihen dort sind ganz gefüllt. Dann versichert Italien der Ukraine, sie auf dem Weg in die EU zu begleiten.

Von Oliver Meiler, Rom

Ein paar Sitze blieben leer im Palazzo Montecitorio, der Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments. In den oberen Reihen und auf der Tribüne hatten es einige Abgeordnete und Senatoren der Cinque Stelle und der rechtspopulistischen Lega vorgezogen, den Gastredner aus Kiew nicht mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij werde eine "Marketingoperation ohne Widerrede" eingestanden, die "zum dritten Weltkrieg" führen könne, so die Begründung.

Manche derer, die so denken, sind selbst erklärte Pazifisten, andere sind "Weder-mit-der-Ukraine-noch-mit-Russland"-Theoretiker, wieder andere zählen zu den "Putiniani", wie die Italiener unbekehrte Anhänger von Wladimir Putin nennen. Wenn schon Selenskij reden dürfe, hieß es aus diesen Kreisen, müsse auch Putin reden dürfen. All diese Voten hatten in den vergangenen Tagen viel zu reden gegeben.

Doch die Sorge, Italien könne eine schlechte Figur machen, verflüchtigte sich in den langen Standing Ovations, die den ukrainischen Präsidenten am Dienstag empfingen. Selenskij schilderte dem Parlament in der Videoschalte mit dramatischen Worte die Lage seines Landes. Dass er ausdrücklich die Zahl der im Krieg getöteten Kinder nannte, 117 zum Zeitpunkt seiner Rede, war als eindringlicher Appell an die Italienerinnen und Italiener gemeint: "Ich weiß, was für euch Familie und Kinder bedeuten." Er erinnerte auch daran, dass unter den rund 70 000 ukrainischen Flüchtlingen, die mittlerweile Italien erreicht haben, 25 000 Kinder seien.

Damit die Italiener die Dimension des Leids an der Front fassen können, zog Selenskij einen Vergleich zwischen zwei ungefähr gleich großen Hafenstädten, einer italienischen und einer ukrainischen: "Stellt euch euer Genua total zerstört vor: Das ist heute Mariupol. Stellt euch vor, Mariupol wäre Genua."

"Der Widerstand in Mariupol, Charkiw und Odessa ist heldenhaft", sagt Draghi

Vor der Rede hatten sich italienische Medien gefragt, ob Selenskij wie in seinen Reden vor Parlamentariern anderer Länder historische Referenzen bemühen würde. Vielleicht würde er den ukrainischen Widerstand mit der "Resistenza" vergleichen, dem Widerstandskampf der Partisanen gegen Faschisten und Nazis im Zweiten Weltkrieg. Doch davon sah er ab, die Anspielung hätte das Parlament womöglich gespaltet. Stattdessen sagte er, Italien sei ja für viele russische Oligarchen ein Sehnsuchts- und Urlaubsort. "Ihr dürft diese Mächtigen mit ihren Immobilien, mit ihren Yachten und Konten nicht mehr bei euch aufnehmen." Es brauche noch mehr Sanktionen gegen Russland.

Dann wandte sich Premier Mario Draghi an Selenskij und dankte diesem für das "außergewöhnliche Zeugnis", das er und das ukrainische Volk vor der Welt ablegten. "Die Arroganz der russischen Regierung prallt auf die Würde dieses Volkes." Die Grausamkeit Putins schlage sich nieder auf die ukrainischen Städte, "der Widerstand in Mariupol, Charkiw und Odessa ist heldenhaft". Die Ukraine verteidige heute nicht nur sich selbst. "Sie verteidigt unseren Frieden, unsere Freiheit, unsere Sicherheit. Italien ist euch dafür zutiefst dankbar", sagte Draghi. Deshalb öffneten die Italiener nun Türen und Herzen für die Flüchtlinge und seien bereit, noch viel mehr zu tun.

Dann wurde Draghi politisch. Italien habe bereits Vermögen von russischen Oligarchen im Land für mehr als 800 Millionen Euro beschlagnahmt. Nun sei es darum bemüht, möglichst schnell die Energiequellen zu diversifizieren, damit man bald weniger abhängig sei von russischem Gas. Zentral war die Passage zur EU. "Italien will", sagte Draghi, "dass die Ukraine Teil der Europäischen Union wird." Es sei oft gesagt worden, dass der Integrationsprozess lange dauere und viele Reformen erfordere, damit er auch funktioniere. "Doch, Präsident Selenskij, Italien wird in diesem Prozess an der Seite der Ukraine stehen."

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