"Das bedeutet 98,7 Prozent, lieber Sebastian." Der "liebe Sebastian" dreht sich zum Publikum, lässt sich beklatschen und bejubeln. Es ist Anfang Juli, in einer in Türkis dekorierten Halle im österreichischen Linz. Sebastian Kurz, im schmalen Anzug ohne Krawatte, ist gerade mit überragender Zustimmung zum Obmann der ÖVP gewählt worden. Er soll die Konservativen aus ihrem Tief führen, aus der Partei eine frische Bewegung machen. Dafür geben ihm die Delegierten so viel Macht wie noch keinem Chef vor ihm. Er darf der ÖVP einen neuen Namen geben, eine neue Farbe - die Partei, die ist nun er. Am Ende des Tages führt Kurz die Delegierten in einem langen Zug aus der Halle an, es ist ein Bild wie bei einer Prozession. "Der Messias", titeln Zeitungen anschließend.
In Österreich lässt sich gerade ein Musterbeispiel für politische Hypes beobachten. Kurz scheint wenige Monate nach seiner Kür nicht mehr einholbar zu sein. Seit der junge Außenminister seiner Partei vorsteht, führt er alle Umfragen für die Parlamentswahlen am 15. Oktober klar an. Wenn das so bleiben sollte, steht seinem Weg zur Kanzlerschaft kaum etwas im Weg - der dann 31-Jährige wäre der jüngste Regierungschef in der Europäischen Union. Aber steckt in so einem Aufstieg nicht immer die Gefahr vom tiefen Fall?
Im Duden wird der Hype mit einer "Welle oberflächlicher Begeisterung" umschrieben. Und das ist er auch, eine Welle, die einen mitnimmt, nach oben hebt, aber genauso schnell wieder hinunterspülen kann. Beispiele für solch heimtückische Wellen, die sich letztendlich weniger als Segen denn als Fluch herausstellen, gibt es einige.
Macrons Fall, Schulz-Effekt ohne Effekt
In Österreich hat das gerade erst der Vorgänger von Kurz erfahren müssen. Reinhold Mitterlehner wurde bei seiner Kür als "Django" gefeiert; nach nicht einmal zwei Jahren war davon nichts mehr übrig, er gab entnervt auf.
Auch in Deutschland muss man für ein Beispiel nicht weit zurückblicken. Noch sehr präsent ist der kurze Wirbel um den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Dieser führte sogar zu einer eigenen Wortschöpfung, dem "Schulz-Effekt" - der letztlich gar kein Effekt war.
Ein besonders passendes Beispiel ist aber Emmanuel Macron, der oft mit Sebastian Kurz verglichen wird. Hier kam die "Macronmania" zur rechten Zeit, hat bis zu den Wahlen gehalten und dem Franzosen nicht nur das Präsidentenamt, sondern auch eine absolute Mehrheit im Parlament beschert. Umso deutlicher fällt er gerade in der Gunst der Bevölkerung. Seit Macron angekündigt hat, die Wohnbeihilfe zu kürzen, um stattdessen die Vermögensteuer für besonders Wohlhabende zu senken, sind seine Umfragewerte rapide gesunken.
Dabei ist es eine Politik, die nicht überraschend kommt. Macron hat immer schon eine wirtschaftsfreundliche Haltung eingenommen. Im Wahlkampf aber rückten seine Inhalte in den Hintergrund, die Inszenierung in den Vordergrund. Ein Bruch mit dem System, ein Wandel, eine neue Bewegung: Alles Schlagworte, die gut ankamen, den Hype befeuerten und jegliche inhaltliche Auseinandersetzung verdrängten.
Sebastian Kurz folgt den gleichen Spielregeln. Auch er ist großgeworden in einer der etablierten Großparteien, hat nun aber deren Namen und die Parteifarbe geändert. Aus der ÖVP wurde "Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei", aus schwarz wurde türkis. Es braucht nicht viel, um darin vor allem Marketing zu sehen. Aber die Show funktioniert. Den Umfragen zufolge liegt die Partei klar vor SPÖ und FPÖ, die wohl um den zweiten Platz konkurrieren müssen.
Bisher macht Kurz also alles richtig, verkauft sich und seine Partei erfolgreich als frische Kraft - auch wenn er selbst seit 2011 der Regierung angehört (und seine ÖVP sogar seit 1987 ohne Unterbrechung regiert).
Der Auftritt als Bewegung ist bei ihm noch deutlicher Inszenierung als bei Macron, der ja ebenfalls bereits Teil einer französischen Regierung war. "Kurz braucht die Organisationsstruktur der ÖVP-Landesparteien im Bundeswahlkampf. Auch bekommt die ÖVP insgesamt auf allen Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) pro Jahr fast 60 Millionen. Eine ganz neue Bewegung müsste bei null starten, eine Partei mit bloß dem Image einer Bewegung kann das Geld behalten", erklärt der österreichische Politologe Peter Filzmaier von der Donau-Universität Krems.
Inhaltlich beschränkt sich der Außenminister auf seine Kernthemen Flüchtlingskrise und eine harte Türkeipolitik, zu innen- oder wirtschaftspolitischen Fragen äußert er sich kaum. Auch der Skandal um eine geschönte Studie aus seinem Ministerium schadet seinem Image als "Messias" nicht. Der Hype lässt nur schöne Geschichten zu, Aufmerksamkeit und Begeisterung. Es geht vor allem um Emotionen. Dafür lässt Kurz sich auch stundenlang für Selfies mit seinen Fans fotografieren oder setzt Pressekonferenzen abgestimmt mit den Abendnachrichten an. Neben "Messias" wird er "Wunderwuzzi", "Popstar der österreichischen Politik" oder einfach "der Sebastian" genannt.
Aber warum kommt es überhaupt zu so einem Hype?
Es sind die erstarrten Strukturen, dieselben Gesichter in der Politik seit Jahrzehnten, die nicht nur Österreicher nach Wandel gieren lassen. "Wir haben in den meisten Demokratien eine hohe Unzufriedenheit mit der etablierten Politik. Das führt zu einer großen Sehnsucht nach neuen Politikern - meistens sind sie gar nicht wirklich neu -, die irgendwie anders erscheinen", sagt Filzmaier. Letztlich bedeute so ein Hype aber auch eine "Begeisterung für neue Entwicklungen in der Politik, während wir doch gleichzeitig oft politische Verdrossenheit beklagen", betont der Experte. Es handelt sich im Grunde also um etwas Gutes.
Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Stilisierung als Hoffnungsträger leisten oftmals die Medien, die auf neue Gesichter gerne anspringen; aber auch soziale Medien und geschickt inszenierte Kampagnen.
Selbst in Deutschland scheint es nach mehr als einem Jahrzehnt Angela Merkel ein Bedürfnis nach Wandel zu geben, wie der "Schulz-Effekt" zeigt. Aber die Erwartungen an den SPD-Kanzlerkandidaten waren so hoch, dass sie eigentlich enttäuscht werden mussten.
Steht Sebastian Kurz Ähnliches bevor? Bis zu den Nationalratswahlen am 15. Oktober sind es schließlich noch einige Wochen.
"Kurz hat eine hochprofessionelle Strategie mit einem taktisch ganz genau überlegten Zeitplan", sagt Politologe Filzmaier. "Er ist gut vorbereitet, in regelmäßigen Abständen neue Akzente zu setzen, um die Euphorie aufrechtzuhalten." Angesichts eines Drittels unentschlossener Wähler sei es aber aus heutiger Sicht nicht zu sagen, ob Kurz tatsächlich die Wahlen gewinnt. Der Druck ist auf alle Fälle sehr hoch.
"Kurz ist zum Erfolg verdammt, er muss nicht nur irgendwie knapp Erster werden, sondern wie Macron überlegen gewinnen", führt Filzmaier aus. Wenn er das nicht schafft, wird er noch in der Wahlnacht die hohen Erwartungen seiner Partei, die sich auf seine Person zuschneiden ließ, enttäuschen. Aber selbst wenn er es schafft, ist die Gefahr groß, schnell wieder abzustürzen. Eine Wahleuphorie ist selten zu halten. Außerdem sei ein so großer Wandel in der Politik, wie er verspricht, schon alleine durch Verfassung und Wahlrecht nicht möglich, sagt Filzmaier.
Dass "der Sebastian" also in einem Jahr noch immer so umjubelt ist - die Aussichten dafür stehen nicht besonders gut.