Das Politische Buch:Leidgenossinnen

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Harter Ton, harte Arbeit: In einem Arbeitsraum im Mädchenheim Lärchenheim in Lutzenberg hängt im März 1970 die Parole: "Maul halten! Ordnung halten! Durchhalten". (Foto: Staatsarchiv Aargau, Ringier Bildarchiv)

Der Journalist Yves Demuth hat ein aufrüttelndes Buch über Zwangsarbeiterinnen in der Schweiz geschrieben: Frauen, die bis Mitte der 1970er-Jahre zwangsweise in Fabriken schuften mussten. Die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels hat gerade erst begonnen.

Rezension von Isabel Pfaff

Die meisten Schweizerinnen und Schweizer würden es sich wohl verbitten, mit der DDR verglichen zu werden. Die DDR, das war eine Diktatur, noch dazu sozialistisch. Im Gegensatz dazu die Schweiz: die Demokratie schlechthin in Europa, außerdem wirtschaftsliberal und stets darauf bedacht, die Bürger möglichst vor staatlichen Eingriffen zu schützen.

Und doch gibt es eine überraschende Parallele. In Ostdeutschland konnten die sozialistischen Behörden Jugendliche, die sich auflehnten, ohne Gerichtsurteil in sogenannte Jugendwerkhöfe sperren. In manchen Einrichtungen leisteten die eingesperrten Jugendlichen Zwangsarbeit gemäß der Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO): Sie mussten also ohne gerichtliche Verurteilung und unter Androhung von Strafen Arbeiten verrichten, für die sie sich nicht freiwillig gemeldet hatten.

Erst jetzt kommen die Tatsachen an die Öffentlichkeit

In der Schweiz, die im Gegensatz zur DDR das internationale Abkommen zum Verbot von Zwangsarbeit Ende der 1930er unterzeichnet hatte, geschah noch bis ins späte 20. Jahrhundert Ähnliches: Behörden konnten Menschen, die von der gesellschaftlichen Norm abwichen, wegsperren und sie gegen ihren Willen in Fabriken arbeiten lassen. "Schweizer Zwangsarbeiterinnen - eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit" heißt das Buch, das der 42-jährige Journalist Yves Demuth darüber geschrieben hat. Es handelt von einem bisher unbekannten Kapitel in der jüngeren Geschichte der Schweiz, einem besonders düsteren Abschnitt in einer Ära, die gar nicht mal so arm an dunklen Episoden war.

Administrativ Versorgte, Verdingkinder, das "Hilfswerk" für die Kinder der Landstraße - schon mal gehört? Vielleicht. Denn seit einigen Jahren beginnt man sich in der Schweiz an die Nachkriegsjahrzehnte zu erinnern: jene Zeit, in der sich die verheerenden Kriegserfahrungen und die neuen Grundsätze der UN-Charta langsam niederschlugen in den meisten westeuropäischen Rechtssystemen. Die Menschenrechte waren als neuer Referenzpunkt entstanden. Die Schweiz jedoch blieb von diesen Entwicklungen zunächst seltsam unberührt. Das erst 1971 eingeführte Wahl- und Stimmrecht für Frauen ist nur das augenfälligste Beispiel dafür.

Wer nicht ins wohlgeordnete Bild passte, war in Gefahr

Weniger bekannt ist das System der sogenannten fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen, das bis Anfang der 1980er-Jahre in der Schweiz existierte. Es verschaffte Behörden über Jahrzehnte enorme Spielräume, um Familien zu drangsalieren und zu zerrütten, wenn diese moralisch oder auch von ihrer Herkunft her nicht ins wohlgeordnete Bild passten. Behördenvertreter konnten diesen Familien ihre Kinder wegnehmen und in Heime oder auf Bauernhöfe stecken. Viele von ihnen leisteten Kinderarbeit, erlitten Gewalt und sexuellen Missbrauch, an manchen wurden sogar Medikamente getestet. Doch damit hörte es nicht auf: Auch erwachsene Frauen und Männer, die sich nicht an die herrschenden Moralvorstellungen hielten, konnten damals ohne Gerichtsverfahren eingesperrt werden, teilweise sogar in normale Gefängnisse. Betroffen waren mindestens 60 000 Menschen - Frauen, Männer, Kinder.

Erst 2010 entschuldigte sich die Schweizer Regierung für dieses Unrecht, einige Jahre später setzte ein Prozess der politischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung ein - nicht zuletzt auf Druck der Betroffenen selbst. Inzwischen sind große Forschungsprojekte dazu entstanden und zum Teil auch schon abgeschlossen. Doch die Erinnerung und gesellschaftliche Reflexion über dieses System aus vermeintlicher Fürsorge und Zwang steht in der Schweiz erst am Anfang. Das zeigt auch Yves Demuths Buch.

Der Autor spricht vom "fürsorgerisch-industriellen Komplex"

Demuth widmet sich einer ganz bestimmten Gruppe von Betroffenen, deren Schicksal bis vor Kurzem nicht bekannt war: junge, meist noch nicht volljährige Frauen, die oft schon ihre gesamte Kindheit in Heimen verbracht hatten. In der wirtschaftlich boomenden Nachkriegszeit wurden diese Frauen von den Fürsorgeämtern in Fabrikheime gesteckt, wo sie Zwangsarbeit verrichten mussten - manche bis zu ihrer Volljährigkeit, andere auch darüber hinaus. Auf dem Papier erhielten sie dafür zwar Lohn, doch den sahen die Frauen in der Regel nicht, weil er meist fast vollständig in ihre Heimunterbringung floss.

Yves Demuth beschreibt eindrücklich, wie dieser "fürsorgerisch-industrielle Komplex" im Detail funktionierte: Die Fabrikheime lieferten schweizerischen Textil- und Uhrenbetrieben dringend benötigte Tiefstlohn-Arbeiterinnen, und der Staat hatte einen Ort, wo er seine "gefallenen Mädchen" fast zum Nulltarif unterbringen konnte - praktischerweise bezahlten die Frauen ihren Heimplatz ja mit ihrem eigenen Lohn. Teils beteiligte sich sogar die Kirche an diesem System, denn oft waren es Ordensschwestern, die die Heime führten und die jungen Frauen mit harter Arbeit, Strafen und strikten Hausordnungen wieder auf den vermeintlich rechten Weg führen wollten.

Der Autor stützt sich auf die Aussagen von zehn betroffenen Frauen, drei von ihnen erzählen ihre Geschichte im Buch selbst. Mit Hilfe ihrer Geschichten und Recherchen in zwölf Archiven rekonstruiert Demuth das Geschehen in fünf Deutschschweizer Fabrikheimen. "Die Recherchen zeigen, dass der Schweizer Fürsorgeapparat mit Hilfe des Fabrikheimsystems zwischen 1941 und 1975 Hunderte Teenagerinnen aus dem ganzen Land Unternehmen auslieferte."

Der Rüstungsindustrielle Emil Bührle, der sich gern seiner großen Kunstsammlung rühmte, beschäftigte ebenfalls Mädchen, die aus ihren Familien genommen worden waren. Das Foto stammt aus dem Jahr 1954. (Foto: Dmitri Kessel/LIFE Picture Collection/Getty)
Yves Demuth: Schweizer Zwangsarbeiterinnen. Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit. Ringier Axel Springer-Verlag, Zürich 2023. 200 Seiten, 35 Franken. E-Book: 30 Franken. (Foto: Ringier-Verlag)

Es ist Zufall und doch bezeichnend, dass eins der Unternehmen, die von den jungen Zwangsarbeiterinnen profitierten, ausgerechnet jenem Mann gehörte, der die Schweiz zuletzt aus ganz anderen Gründen in Verruf brachte: dem Rüstungsindustriellen Emil Bührle (1890-1956). Bührles Geschäfte mit dem NS-Regime haben ihm nicht nur erlaubt, eine fantastische Kunstsammlung aufzubauen, die das Zürcher Kunsthaus gerade zeigt und sich damit in grobe Schwierigkeiten gebracht hat. Sein Reichtum ermöglichte ihm auch, einem jüdischen Industriellen auf der Flucht zwei Textilfirmen abzukaufen. In einer dieser Fabriken musste Elfriede Steiger schuften - eine der Frauen, die in Yves Demuths Buch ihre Geschichte erzählen. Es ist auch diese Verdichtung von Schweizer Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, die Demuths Recherche selbst für Nichtschweizer so lesenswert wie erhellend macht.

Erst 2010 erkannte der Staat das Unrecht an - und entschuldigte sich

Und noch etwas zeigen die knapp 200 Seiten: wie sehr ein eigentlich abstraktes Dokument wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ein Land wie die Schweiz verändern konnte. Erst in der Auseinandersetzung mit der EMRK wurde vielen Schweizern klar, wie groß ihr rechtlicher und gesellschaftlicher Nachholbedarf im Vergleich zu ihren Nachbarn war. In der Folge durften Schweizerinnen endlich politisch mitbestimmen, und auch das System der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen geriet derart unter Druck, dass es schließlich abgeschafft wurde. Bei den Zwangsarbeiterinnen, das lässt Demuth nicht unerwähnt, half allerdings auch die Rezession ab 1975: Plötzlich gab es so wenig Arbeit in der Schweiz, dass die Industrie keinen Bedarf mehr an den Billiglöhnerinnen hatte.

Vergessen haben die Frauen die Jahre in den Fabrikheimen natürlich bis heute nicht. Ursula Biondi, heute 73 Jahre alt, gehört zu jenen Betroffenen, die so lange gekämpft haben, bis der Staat das an ihnen begangene Unrecht 2010 endlich als solches anerkannte. Auch sie musste als Teenagerin Zwangsarbeit leisten. In Yves Demuths Buch schreibt sie: "Bei uns in der Schweiz hat man die Leute nicht erschossen. Man hat sie im Heim gebrochen, und dann haben sich einige selbst das Leben genommen." Wie viele Versorgte Suizid begangen haben, so Biondi, habe noch niemand gezählt.

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