Verhältnis Schweiz - EU:Bern und Brüssel nehmen neuen Anlauf

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Hier wird Unabhängigkeit hochgehalten. Ein ziemlich kleines EU-Banner weht unter der Schweizer Flagge auf einem Ausflugsschiff auf dem Tessiner Lago Maggiore. (Foto: imago images/Westend61)

Knapp drei Jahre ist es her, dass die Schweiz ihre Verhandlungen mit der EU platzen ließ. Jetzt stehen beide Parteien vor einer neuen Runde. Am Ende soll das Verhältnis noch enger und verlässlicher sein. Kann das klappen?

Von Isabel Pfaff, Bern

Dass es so schnell einen Neustart geben würde, hätte am 26. Mai 2021 wohl noch niemand geglaubt. An jenem Mittwoch starrten die Schweizer und auch ein paar Europäer ungläubig auf die Bildschirme, als der amtierende Bundespräsident Guy Parmelin gerade verkündete, dass die Schweizer Regierung beschlossen habe, die Verhandlungen mit der EU "zu beenden". Das klang recht unspektakulär dafür, dass man da gerade einen Prozess, der für die Wirtschaft des Landes enorme Bedeutung hat, einseitig abgebrochen hatte - ohne einen Plan B zu haben.

Jetzt, nur knapp drei Jahre später, nehmen Bern und Brüssel einen neuen Anlauf. Beide Seiten haben im März ihr jeweiliges Verhandlungsmandat verabschiedet und nehmen an diesem Montag offiziell Gespräche über ein neu organisiertes bilaterales Verhältnis auf. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Warum ist das Verhältnis zur EU für die Schweiz so wichtig?

Zur Erinnerung: Die Schweiz ist weder Mitglied der EU noch des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Sie hat stattdessen seit den Neunzigerjahren eine Art maßgeschneidertes Verhältnis zu der sie umgebenden Union und nimmt mehr als 100 bilaterale Verträge in zahlreichen Bereichen am EU-Binnenmarkt teil. Auch wegen dieses Vertragsgeflechts fällt oft gar nicht auf, dass die Schweiz kein EU-Staat ist. EU-Bürgerinnen dürfen sich in der Schweiz niederlassen und arbeiten (und umgekehrt), viele Waren und Dienstleistungen können zollfrei ausgetauscht werden, und wenn Asylsuchende in der Schweiz ankommen, gilt auch dort das sogenannte Dublin-Verfahren.

Mitgliedschaft ausgeschlossen

Dieses besondere Arrangement war früher einmal das Zugeständnis Brüssels an ein Land, in dem man ein künftiges Mitglied sah. Doch inzwischen haben alle Beteiligten begriffen, dass die Schweizer weit davon entfernt sind, ein Beitrittsgesuch zu stellen. Sie halten ihre besondere politische und wirtschaftliche Struktur für nicht kompatibel mit dem EU-System, möchten aber weiterhin eng mit Brüssel kooperieren. Was verständlich ist: Gemäß einer Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2019 hat die Schweiz pro Kopf mehr vom EU-Binnenmarkt profitiert als jedes andere Land - ohne EU-Mitglied zu sein.

Wieso wird überhaupt verhandelt?

Auch wenn Brüssel seinerseits Interesse an einem guten Verhältnis zur Schweiz hat, verliert man in Europas Hauptstadt zunehmend die Geduld mit dem ewigen Spezialfall im Herzen Europas. Die vielen Verträge zu aktualisieren und zu überwachen, ist aufwendig. Schon lange will Brüssel deshalb das Verhältnis zur Schweiz stärker formalisieren. Auf dem EU-Binnenmarkt, so das zentrale Ziel, sollen für alle die gleichen Regeln gelten.

Die erste Idee: ein institutionelles Rahmenabkommen, das übergreifend Regeln festlegt für die wichtigsten bilateralen Verträge. Unter anderem sollte die Schweiz in jenen Bereichen, in denen sie am Binnenmarkt teilnimmt, neues EU-Recht quasi automatisch übernehmen. Auch sollte es erstmals ein paritätisch besetztes Schiedsgericht geben, das Streitigkeiten über die Auslegung der Verträge regelt und in Fragen des Binnenmarktrechts den Gerichtshof der Europäischen Union ( EuGH) hinzuzieht. 2014 begannen die Verhandlungen über einen solchen Rahmenvertrag, 2018 lag ein Entwurf vor. Nach langwierigen innenpolitischen "Konsultationen" brach die Schweizer Regierung den Prozess jedoch im Mai 2021 ab, weil sie in mehreren Bereichen ihre Interessen nicht hatte durchsetzen können.

Seither hat die EU weder bestehende Verträge mit der Schweiz aktualisiert, noch neue abgeschlossen. Das hatte zum Teil gravierende Folgen, etwa den Ausschluss Schweizer Forscherinnen und Forscher aus dem Forschungsprogramm "Horizon Europe" oder die Rückstufung von Schweizer Exportbranchen auf Drittland-Status. Dieser Zustand war und ist für beide Seiten unbefriedigend. Ab März 2022 - nach einer fast einjährigen Funkstille - redete man deshalb wieder miteinander, sondierte, überlegte, wälzte Ideen. Um jetzt, im März 2024, tatsächlich einen neuen Anlauf zu nehmen.

Was ist neu an den jetzt beginnenden Verhandlungen?

Wie schon beim ersten Mal soll es auch jetzt darum gehen, dass die Schweiz da, wo sie am Binnenmarkt teilnimmt, neues EU-Recht grundsätzlich übernimmt. Auch das Schiedsgericht zur Streitbeilegung ist weiterhin geplant. Der zentrale Unterschied: Ein Rahmenabkommen ist vom Tisch, dafür sollen diese institutionellen Regeln - zusammen mit gewissen Ausnahmen - in die einzelnen Marktzugangsabkommen hineingeschrieben werden.

Heikler Punkt: Migration

"Obwohl diese Lösung komplizierter und kleinteiliger ist als ein Rahmenvertrag, hat sich die EU darauf eingelassen", erklärt Christa Tobler, Professorin für Europarecht an der Uni Basel. "Dafür ist die Verhandlungsmasse insgesamt größer und damit attraktiver." Es geht diesmal nicht mehr nur um die fünf bestehenden Marktzugangsabkommen, sondern auch um drei neue (Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit). Zudem wollen die Verhandlungspartner auch die Teilnahme der Schweiz an Forschungs- und Bildungsprogrammen regeln. Und: Der bisher freiwillige, sogenannte Kohäsionsbeitrag der Schweiz an strukturschwache EU-Staaten soll verstetigt werden. Die Schweizer Regierung spricht von einem "Paket-Ansatz".

Was sind die strittigen Punkte?

"Für die Schweiz wird es dort schwierig, wo es um Zuwanderung, ihr hohes Lohnniveau und ihre rechtliche Souveränität geht", so Europarechtlerin Tobler. Am kompliziertesten dürften deshalb die Verhandlungen über das Personenfreizügigkeitsabkommen werden. Müssen wirklich alle EU-Bürger nach fünf Jahren ein Daueraufenthaltsrecht in der Schweiz erhalten? Wie ist das mit dem Anspruch auf Sozialhilfe?

Bern will unbedingt auch Ausnahmen im Entsenderecht verankern, von denen es sich mehr Lohnschutz erhofft - etwa eine Voranmeldefrist für entsandte Arbeitnehmer aus der EU oder eine Spesenregelung, die nicht indirekt zu Lohndumping führt. Klappt das nicht, muss die Schweizer Regierung damit rechnen, dass die Gewerkschaften das Verhandlungspaket bekämpfen werden.

Auf Widerspruch in der Schweiz stößt nach wie vor die Rolle des EuGH. Dass sich das Schiedsgericht in manchen Fällen auf dessen Rechtsprechung stützen würde, macht das Abkommen vor allem für rechte Kreise zum roten Tuch. Die rechtspopulistische SVP etwa spricht von einem "Unterwerfungs- und Kolonialvertrag". Europarechtlerin Tobler erinnert jedoch daran, dass das EU-Recht, das in Sachen Binnenmarkt nun mal maßgeblich ist, eine Rolle des EuGH verlangt.

Wie sind die Aussichten?

"Vorsichtig positiv", findet Christa Tobler. Wie auch schon beim Rahmenvertrag muss die Schweizer Regierung auch diesmal das Kunststück vollbringen, sich mit Brüssel zu einigen und für diese Einigung gleichzeitig Mehrheiten im Inland zu gewinnen. Momentan ist das Stimmungsbild nicht eindeutig. "Es wird darauf ankommen, was die Schweiz in den Verhandlungen noch herausschlagen kann und wie sie mögliche Nachteile innenpolitisch kompensieren würde", so Tobler. Fest steht: Wenn mächtige Interessengruppen das Ergebnis ablehnen, könnte das Ganze am Ende bei einer Volksabstimmung scheitern. Wie dann die Zukunft dieser speziellen Insel in der Mitte Europas aussehen wird, weiß keiner.

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