Schweiz:Die Zauberformel verliert ihren Zauber

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200 Nationalräte wurden vor einer Woche im Bundeshaus in Bern auf die Schweizer Verfassung vereidigt. Bei der Regierungsbildung müssen sie auch ungeschriebene Gesetze achten. (Foto: Matthias Spicher/Imago)

Am Mittwoch wählt das Parlament in Bern die sieben Mitglieder der Regierung. Doch das ungeschriebene Gesetz, dabei möglichst alle starken politischen Kräfte einzubeziehen, funktioniert schon seit einer Weile nicht mehr. Kann das Schweizer System trotzdem überleben?

Von Isabel Pfaff, Bern

Auf den ersten Blick sieht es nach einem unspektakulären Wahltag aus. Wie immer nach einer Parlamentswahl in der Schweiz bestimmen die frisch gewählten Abgeordneten an einem Mittwoch im Dezember die Regierung. Doch weil der siebenköpfige Bundesrat, wie das Exekutivgremium heißt, auf Kontinuität angelegt ist, gibt es selten Überraschungen.

Diesmal wird die Wahl am 13. Dezember stattfinden, und bis auf einen durch Rücktritt frei gewordenen Sitz der Sozialdemokraten (SP) dürfte alles beim Alten bleiben. Denn üblicherweise, so sehen es die ungeschriebenen Gesetze der Eidgenossenschaft vor, werden alle Regierungsmitglieder im Amt bestätigt, die weitermachen wollen.

Die Sitzverteilung spiegelt die Wahlergebnisse nur ungenügend wider

Für den freien Sitz hat die SP-Fraktion zwei Männer nominiert: den Basler Regierungspräsidenten Beat Jans und den Nationalrat Jon Pult aus Graubünden. In den vergangenen Wochen hat sich keiner der beiden zum klaren Favoriten entwickelt, das Rennen ist offen. Doch so lange einer von beiden gewinnt, bleibt es im politischen Bern wohl so beschaulich, wie man es von der Schweiz gewohnt ist.

Auf den zweiten Blick zeigt die Regierungswahl in diesem Jahr eindeutig, dass es schon länger knirscht im Schweizer System. Die spezifische Art der Regierungsbildung, Konkordanz genannt, steckt in einer Krise. Der Anspruch, über die sieben Regierungsmitglieder alle wichtigen politischen Kräfte des Landes einzubinden, wird schon seit Jahren nicht mehr erfüllt. Zum einen haben die grünen Kräfte keinen Sitz im Bundesrat, obwohl sie zusammengenommen gut 17 Prozent der Wähler repräsentieren. Und zum anderen bildet die "Zauberformel" - jener Parteienschlüssel, nach denen sich der Bundesrat zusammensetzt - die Wählerstärken kaum noch ab.

Gemäß der Zauberformel entsenden die drei stärksten Parteien zwei Vertreter in den Bundesrat, die viertstärkste Partei einen. Aktuell heißt das: Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP), die SP und die liberale FDP stellen je zwei, die Mitte-Partei ein Regierungsmitglied. Der Sitzanspruch der SVP, mit knapp 28 Prozent die mit Abstand stärkste Kraft, ist weitgehend unbestritten, auch jener der SP (gut 18 Prozent). Doch besonders die anhaltende Schwäche der FDP (14,3 Prozent) bringt das System ins Wanken. Die Mitte liegt mit 14,1 Prozent Wähleranteil praktisch gleichauf. Wieso sollen die Liberalen also einen Bundesrat mehr stellen? Und die Grünen und Grünliberalen gar keinen?

Grüne Parteien müssen draußen bleiben

Bei den Wahlen 2019 war diese Unwucht noch krasser zu spüren. Damals schnitten die Grünen so gut ab, dass sie die Mitte-Partei (damals noch CVP) überholten. Doch auch mit den jüngsten Verlusten der Grünen und Grünliberalen bleibt die Zauberformel eine schlechte Formel, wenn der Anspruch Konkordanz heißt.

"Wir haben zurzeit tatsächlich eine Schieflage", sagt Rahel Freiburghaus. Für die Berner Politikwissenschaftlerin stellen der Ausschluss der Grünen aus dem Bundesrat und die Überrepräsentation mancher Parteien ein demokratisches Problem dar. "Ein Problem, das das gesamte politische System in der Schweiz lähmen könnte."

Um zu erklären, was sie meint, muss Freiburghaus weit ausholen. Das Schweizer Konkordanzsystem ist alt. Seine Wurzeln liegen in den direktdemokratischen Institutionen des Landes, die es seit fast 200 Jahren gibt. "Seit es Volksabstimmungen gibt, drängen neue politische Kräfte in die Regierung", erklärt Freiburghaus. Gab es nach der Gründung des Schweizer Bundesstaats 1848 praktisch nur FDP-Bundesräte, so mussten sie über die Jahrzehnte Platz für neue politische Kräfte machen - anderenfalls konnten diese das Regieren erheblich erschweren.

Referenden können die Arbeit der Regierung torpedieren

"Die direkte Demokratie ist ein mächtiges Oppositionsinstrument", sagt Freiburghaus. Tatsächlich können Volksinitiativen und Referenden Regierungsprojekte und bereits verabschiedete Gesetze kippen und damit die Arbeit von Regierung und Parlament torpedieren. Freiburghaus erzählt von regelrechten "Referendumsstürmen" in Zeiten, in denen neue Parteien Machtansprüche stellten. "Nur deshalb ist die Schweizer Regierung eine Konkordanzregierung: Sie muss alle relevanten Kräfte einbinden, sonst kann sie nicht gut arbeiten", so Freiburghaus.

Die heute gültige Zauberformel entstand schließlich Ende der 1950er-Jahre, seither wird sie mit wenigen Ausnahmen befolgt. Zusätzlich, so die Politologin, entstand in der Schweiz das Dogma, amtierende Bundesräte nicht abzuwählen. "Meist argumentieren die Parteien, dass es diese Prinzipien seien, die das politische System der Schweiz so stabil machen würden. Aber das stimmt empirisch nicht." In den Kantonen beispielsweise herrsche auch das Konkordanzsystem, aber dort würden die Regierungen direkt vom Volk gewählt. Immer wieder, so Freiburghaus, komme es da zu Abwahlen. "Instabil geht es dort trotzdem nicht zu."

Freiburghaus zufolge sind die vielen ungeschriebenen Regeln auf Bundesebene nicht sachlich begründet, sondern vor allem Ausdruck einer stark von den politischen Eliten geprägten Politik. "Wahlen sollten Repräsentation verändern können", sagt die Politologin. "Faktisch tun sie es in der Schweiz im Moment zu wenig."

Und wirklich: Eigentlich würden es die Wahlergebnisse hergeben, dass die Abgeordneten am Mittwoch einen der FDP-Bundesräte abwählen und dafür den Grünen einen Sitz geben. Diese haben aus Frust über die Zauberformel einen Kandidaten gegen die FDP in Stellung gebracht, der am Mittwoch antreten wird.

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Nur: Praktisch alle anderen Parteien haben bereits angekündigt, sich an die geltenden Dogmen zu halten. Es ist also höchst unwahrscheinlich, dass ein amtierender Bundesrat zugunsten des grünen Kandidaten Gerhard Andrey abgewählt wird. Oder dass das Parlament einen anderen SP-Kandidaten als die zwei offiziell Nominierten zum Bundesrat macht. Damit würden die Parteien schließlich die Wiederwahl der eigenen Bundesräte gefährden. In Bern ist bereits die Rede vom "Machtkartell" der Bundesratsparteien.

Gut möglich, dass sich die Grünen nach einer erfolglosen Wahl am Mittwoch auf die Tradition der "Referendumsstürme" besinnen und verstärkt auf Volksabstimmungen setzen werden - für die Arbeit von Regierung und Parlament eher ein destabilisierender Faktor, so Rahel Freiburghaus. Sie glaubt, dass sich die Zauberformel nicht mehr allzu lange halten wird. Historiker und Politologen denken gerade darüber nach, die Formel flexibler auszulegen, indem man etwa den siebten Sitz im Bundesrat unter den Parteien rotieren lässt. Für Freiburghaus ist auch vorstellbar, dass sich die Schweiz ganz von der Konkordanz verabschiedet und zu einer parlamentarischen Demokratie wird. Es dürfte also spannend werden - nur wohl nicht am kommenden Mittwoch.

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