Deutscher Schulpreis:"Wir müssen versuchen, ihr Potenzial zu finden"

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Die Eichendorffschule von Direktor Helmut Klemm, sei ein Gamechanger, heißt es in der Begründung der Jury. (Foto: Kathrin Müller-Lancé)

Eine Mittelschule aus Erlangen gewinnt den Deutschen Schulpreis. Viele Kinder und Jugendliche haben Migrationshintergrund und kommen aus Familien, die Sozialleistungen beziehen. Die Schule ist mit neuen Methoden sehr erfolgreich.

Von Kathrin Müller-Lancé, Erlangen

Schon auf die Nominierung sind sie richtig stolz gewesen an der Eichendorffschule in Erlangen. Von Weitem sah man das blaue Plakat, das sie ans Gitter des Bolzplatzes gehängt haben, darauf stand: "Nominierte Schule für den Deutschen Schulpreis." Wenige Meter daneben wachsen Feigen und Salbei in Hochbeeten, auf dem Schulhof drehen Fünftklässler auf BMX-Rädern gerne ein paar Runden, der Kurs ist eine Zusammenarbeit mit der Volkshochschule.

Von außen betrachtet könnte die Eichendorffschule auch ein schickes Privatgymnasium sein. Aber sie ist eine Mittelschule. 400 Schülerinnen und Schüler, mehr als zwei Drittel von ihnen haben einen Migrationshintergrund, mehr als ein Drittel kommt aus Familien, die Sozialleistungen beziehen. "Bei uns kommen viele an, die sonst durchs Raster fallen", sagt Schulleiter Helmut Klemm. Schüler, die in der Grundschule Vierer und Fünfer in Mathe und Deutsch haben, die es nicht aufs Gymnasium und nicht auf die Realschule schaffen. "Viele haben dann ein entsprechendes Selbstbild, und wir müssen versuchen, ihr Potenzial zu finden."

Kein Gong, kein Frontalunterricht

Auf den Mittelschulen liegt nicht gerade große Aufmerksamkeit. Umso mehr freuen sie sich in Erlangen, dass eine Fachjury ihre Eichendorffschule nun tatsächlich zur besten Schule Deutschlands gewählt hat.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überreichte Schulleiter Helmut Klemm am Donnerstag in Berlin den Deutschen Schulpreis. Vergeben wird der mit 100 000 Euro dotierte Preis von der Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof-Stiftung. Die Eichendorffschule sei ein Gamechanger, heißt es in der Begründung der Jury, weil sie die Selbstwirksamkeit der Schüler fördere, aus ihnen erfolgreiche Lerner mache und ihnen damit berufliche Perspektiven eröffne.

Schon länger ist in Bayern von einer Krise der Mittelschulen die Rede. Hier ist nicht nur der Lehrermangel besonders akut, auch die Zahl der Schülerinnen und Schüler ging in den vergangenen Jahren zurück. Vor zehn Jahren gab es in Bayern noch mehr als 208 000 Mittelschüler, im vergangenen Schuljahr nur noch 196 000. 2011 hat die Mittelschule in Bayern die in Verruf geratene Hauptschule abgelöst, auch in vielen anderen Bundesländern wurde die Schulart umbenannt oder ganz abgeschafft. In Baden-Württemberg gibt es inzwischen Werkrealschulen, in Berlin wurden Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu Sekundarschulen zusammengelegt.

Einige Tage vor der Preisverleihung führt Helmut Klemm, 63, Jeansjacke und Spitzbart, durch seine Schule. Es ist auffallend ruhig in dem Sechzigerjahre-Bau, selbst wenn eine Stunde vorbei ist, bimmelt kein Gong. Den hat Klemm schon vor Jahren abgestellt, die Schüler sollen selbst darauf achten, zur richtigen Uhrzeit im Klassenzimmer zu erscheinen.

Die Eichendorffschule hat 400 Schülerinnen und Schüler, mehr als zwei Drittel von ihnen haben einen Migrationshintergrund. (Foto: Kathrin Müller-Lancé)

Überhaupt geht es hier viel um Eigenverantwortung. Von der siebten Klasse an lernen die Schülerinnen und Schüler Mathe, Deutsch und Englisch in sogenannten Lernbüros. Das heißt: Der Stoff ist in Lernbausteine aufgeteilt, in Mathe sind das zum Beispiel die Quadratzahlen oder geometrische Formen, die Schüler arbeiten selbständig daran. Sie entscheiden, wann sie in den zehn Stunden pro Woche welches Fach machen. Dann klicken sie die entsprechenden Aufgaben auf ihrem Tablet an, wenn sie etwas nicht verstehen oder eine Frage haben, können sie die Lehrerin oder den Lehrer an einem Tisch in der Mitte des Klassenzimmers aufsuchen. Frontalunterricht gibt es nicht. "In ein paar Sachen bin ich langsamer, in ein paar Sachen schneller, das passt dann gut", sagt Maxim, 15, der gerade an einem Baustein zu Fremdwörtern arbeitet.

Die Hoffnung auf Änderungen am Schulsystem hat der Direktor aufgegeben

2015 begannen Helmut Klemm und seine Kollegen, die Eichendorffschule zu einer Ganztagsschule umzubauen. Los ging es mit den beiden fünften Klassen, inzwischen sind alle Stufen auf den Ganztagsbetrieb umgestellt. Das Ziel: die gängigen Faktoren für soziale Benachteiligung - den Geldbeutel und Bildungsniveau der Eltern, die Familien- und Wohnverhältnisse - so gut wie möglich auszuklammern. Statt 30 Stunden haben die Schüler 37 Stunden Schule pro Woche, die Zeit nutzen sie auch für Film-AGs, Kunstunterricht, Fußball mit selbst gegebenen Spielregeln sowie vier Stunden pro Woche, die sie an einem fach- und klassenübergreifenden Projekt arbeiten, das sie sich selbst ausgesucht haben - zum Beispiel zum Welthunger.

Er habe die Hoffnung aufgegeben, sagt Klemm, dass sich am deutschen Schulsystem in den kommenden Jahren grundsätzlich etwas ändere. Deshalb versucht er, seinen Handlungsspielraum zu nutzen, an seiner Schule das zu verändern, was möglich ist. Dabei nutzt er auch Graubereiche der Schulordnung. Den "Quali", den qualifizierenden Abschluss, zu dem sich Mittelschüler in der neunten Klasse anmelden können, kann man an seiner Schule zum Beispiel auch noch in der zehnten Klasse machen. Die Vorbereitung wird auf zwei Jahre gestreckt, um den Schülern den Druck zu nehmen. Das funktioniere gut, sagt Klemm, damit konnten sie die Zahl der Schüler, die den Quali schaffen, erheblich erhöhen.

Schon einmal hatte sich die Schule beim Deutschen Schulpreis beworben, 2019 war das. Damals waren erst wenige Klassen auf den Ganztag umgestellt worden, erste Erfahrungen gab es, aber noch keine grundsätzlichen Erkenntnisse. Jetzt habe man im Vergleich zu damals Effekte vorweisen können, sagt Klemm. Laut dem Bildungsbericht Bayern machte im Schuljahr 2018/19 jeder dritte bayerische Mittelschüler die Mittlere Reife, an der Eichendorffschule lag der Anteil in den vergangenen Schuljahren bei jeweils mehr als 70 Prozent.

Natürlich klappe an seiner Schule auch nicht alles auf Anhieb, sagt Klemm, für Englisch zum Beispiel gibt es inzwischen zusätzlich zu den zwei Stunden Lernbüro zwei Stunden normalen Unterricht, damit die Schüler auch das Sprechen lernen. Bei den Abschlussprüfungen für Mathe schnitten die Zehntklässler bisher nicht so gut ab, wie Klemm das eigentlich gerne hätte. Auch für ihn sei das neue System ein kontinuierliches Lernen, sagt er.

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Bald will Klemm einen der Höfe in der Schule aufreißen und bepflanzen lassen, dann sollen dort Hühner und Hasen rumlaufen. Eine Imkerei gibt es schon. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, was es heißt, Verantwortung für andere Lebewesen zu übernehmen. Und in den Ferien? Auch dafür hat Klemm eine Lösung. Die Schule hat sich für Leasing-Hasen und -Hühner entschieden, die man, wenn die Schule geschlossen ist, zum Besitzer zurückbringen kann.

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