Russland und Ukraine:Deeskalation liegt nicht in Putins Interesse

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Russlands Präsident Wladimir Putin nimmt am Ostergottesdienst teil. (Foto: dpa)

Putin will russische Pässe an Ostukrainer verteilen. Eine Provokation für den frisch gewählten ukrainischen Präsidenten Selenskij. Es steckt aber noch mehr dahinter.

Kommentar von Silke Bigalke, Moskau

Der russische Präsident macht Politik in der Ukraine, bevor der Neue in Kiew überhaupt dazu kommt. Natürlich ist Wladimir Putins Entscheidung, russische Pässe an Ostukrainer zu verteilen, eine Provokation für den frisch gewählten Präsidenten Wolodimir Selenskij. Es steckt aber noch mehr dahinter.

Zum einen bewertet Moskau durch das Pass-Dekret den Konflikt in der Ostukraine ein Stück neu. Bisher hatte der Kreml ihn als rein ukrainische Angelegenheit dargestellt. Moskau streitet ab, die Separatisten militärisch zu unterstützen und so Gebiete zu kontrollieren. Wenn Putin nun Bewohnern der selbsternannten "Volksrepubliken" im Donbass die Staatsbürgerschaft anbietet, ist das ein weiterer Angriff auf die ukrainische Souveränität. Er erhebt Anspruch auf die Bürger dieser Gebiete, so kann man das sehen.

Dies kann, muss aber kein Schritt dahin sein, auch offen die Kontrolle über das Territorium zu übernehmen. Viele erinnern sich an Georgien, dorthin hatte Moskau 2008 Truppen mit der Begründung geschickt, russische Staatsbürger zu schützen. Die waren dazu geworden, indem der Kreml Pässe in abtrünnigen Gebieten verteilt hatte. Sollen jetzt Ausweise einen Krieg legitimieren, der in der Ostukraine verdeckt geführt wird? Putins Dekret vergrößert die Unsicherheit.

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Diese Verunsicherung hilft Putin zweitens, sich mehr Klarheit über sein neues Gegenüber in Kiew, über Wolodimir Selenskij, zu verschaffen. Dem ließ er nach dessen Wahlsieg vor einer Woche keine drei Tage Schonzeit. Mit dem Politikneuling verbinden ukrainische Wähler die Hoffnung auf ein entspannteres Verhältnis mit Moskau und wieder mehr Kraft für innenpolitische Probleme der Ukraine.

Putin zwingt Selenskij zu einer härteren Linie

Doch Deeskalation liegt offenbar nicht in Putins Interesse. Der hat die Kosten für den Konflikt und die Sanktionen gegen Russland längst eingepreist - und zieht aus einem Gegenspieler in Kiew, den er zu Hause verteufeln kann, Nutzen für seine außenpolitische Agenda.

Selenskij ist da ein Unsicherheitsfaktor für ihn. Putin weiß nicht, wie viel der Ukrainer in Frieden investieren will und wie weit er bei einer Eskalation gehen würde. Mit seinem Pass-Dekret könnte er den Konflikt verstetigen. Er zwingt Selenskij zudem zu einer härteren Linie, die ihn näher an seinen Vorgänger Petro Poroschenko rückt.

Russland zementiere seine Rolle als "Aggressor", ließ Selenskij bereits verlauten. Und als Putin am Wochenende auf dem Seidenstraßengipfel in Peking nachlegte und die russische Staatsbürgerschaft für sämtliche Ukrainer in Erwägung zog, holte der künftige Präsident in Kiew zum Gegenschlag aus: Er wolle allen Völkern die ukrainische Staatsbürgerschaft verleihen, die "unter autoritären und korrupten" Regimen leiden - also "in erster Linie Russen".

Während Putin also Selenskij zwingt, Farbe zu bekennen, tut er selbst das Gegenteil. Will er mit den neuen Pässen tatsächlich die Möglichkeit für einen offenen Militäreinsatz schaffen? Will er sich die Stimmen möglicher Neu-Russen sichern? Oder prorussische Rebellen zufriedenstellen? Vielleicht ist Putins Kunstgriff auch nur ein weiterer Kostenfaktor für seine Steuerzahler. Ostukrainer mit russischen Pass hätten Anspruch auf Sozialleistungen und Renten aus Moskau. Etwa 1,3 Milliarden Euro hat Putin dafür eingerechnet. Für ihn lohnt sich die Investition. Nun rätseln wieder mal alle über ihn, und nicht über den Neuen in Kiew.

© SZ vom 29.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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