Russland:Mehr als der Donbass

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Eines von unzähligen Zielen russischen Beschusses in der Ukraine: Zerstörtes Schulgebäude in Kramatorsk. (Foto: Alina Yarysh/Reuters)

Außenminister Lawrow droht wegen westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine mit der Ausweitung der russischen Ziele. Dabei geht es schon länger nicht nur um die Ostukraine.

Von Frank Nienhuysen, München

Eine kleine Meldung von Donnerstag, die beinahe untergeht im großen Strom der Nachrichten: Im Gebiet der ostukrainischen Stadt Charkiw sind bei einem Raketenbeschuss zwei Menschen getötet worden, 19 weitere wurden verletzt, wie der Bürgermeister Igor Terechow mitteilte. Er beklagte, dass eines der am dichtesten besiedelten Viertel der Stadt getroffen worden sei. Charkiw liegt nicht im Donbass.

Die russische Zeitung Iswestija berichtet ebenfalls fortlaufend über die militärische Lage in der Ukraine. Am Donnerstag berief sie sich auf den Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Demnach haben die russischen Streitkräfte im Gebiet von Odessa "infolge eines Militärschlags" am 16. Juli mehr als 600 ukrainische Kämpfer "vernichtet", unter ihnen 120 ausländische Söldner. Odessa liegt ebenfalls nicht im Donbass. Des Weiteren seien in den vergangenen Tagen "Führungspunkte" in Mykolajiw zerstört worden. Auch das ist recht weit entfernt vom Donbass.

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Am Mittwoch hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow international Besorgnis ausgelöst, als er sagte, dass Russland seine "geografischen Ziele" geändert habe. Sie würden jetzt nicht mehr nur die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk umfassen, die Moskau kurz vor Beginn des Krieges als eigenständige Staaten anerkannt hat. Nun gehöre auch eine Anzahl anderer Regionen dazu. Er nannte die südukrainische Region Cherson, das Gebiet Saporischja und "andere Gebiete". Lawrow begründete dies mit der Unterstützung der Ukraine durch den Westen, der dorthin Waffen mit immer größerer Reichweite liefere. Die USA etwa kündigten nun an, die Ukraine mit vier weiteren Mehrfachraketenwerfern des Typs Himars auszurüsten, über die US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte, sie hätten "auf dem Schlachtfeld viel bewirkt".

Die Äußerungen Lawrows, dass Russland seine Ziele jetzt nicht mehr nur auf den ostukrainischen Donbass konzentriere, sind allerdings eher als Varianten dessen zu verstehen, was in Moskau ohnehin seit Monaten immer wieder erklärt und mit tödlichem Beschuss auch demonstriert worden ist. Präsident Wladimir Putin hatte schon vor Beginn des Feldzugs gegen die Ukraine praktisch dem Nachbarn das Existenzrecht als souveräner Staat abgesprochen. "Demilitarisierung und Denazifizierung" der Ukraine waren Putins Hauptziele. Gleich zu Beginn der Angriffe feuerte Russland Raketen auf die Hauptstadt Kiew und auf Charkiw, die zweitgrößte ukrainische Stadt. Russland hat Odessa angegriffen, Dnipro, Tschernihiw und viele andere Städte und Ortschaften, die nicht zu den nun von Lawrow genannten Gebieten gehören, auf die sich Russland bisher konzentriert habe.

Annalena Baerbock erkennt wenig Neues in Lawrows Drohungen

Russland hat ohnehin bereits mehr als überwiegende Teile des Donbass erobert. Es bereitet derzeit mit Einbürgerungen die Einverleibung etwa des Gebietes Cherson vor. Mehrmals sind dabei die erklärten Ziele auch an die militärische Lage angepasst worden, als der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung sich für Moskau als überraschend hartnäckig erwies, beim Vormarsch auf Kiew zum Beispiel. Nachdem die Ukraine vorgerückte russische Truppen aus dem Raum Kiew zurückgedrängt hatte, betonte Ende März der stellvertretende Generalstabchef Sergej Rudskoj die "Befreiung des gesamten Donbass" als vorrangiges Ziel.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock reagierte deshalb nicht sonderlich überrascht auf Lawrows vermeintlich umdefinierte Kriegsziele. In einem Interview mit der Deutschen Welle sprach sie am Donnerstag von lediglich einer "neuen Propaganda der russischen Seite", die jedes Mal ein anderes Argument benutze, in diesem Fall die zunehmende westliche Unterstützung für die Ukraine. Russland habe aber bereits in der Vergangenheit Ziele außerhalb der derzeit besetzten Gebiete angegriffen, sagte Baerbock. So gesehen hält die Außenministerin die Aussagen ihres russischen Kollegen Lawrow auch nicht für eine veränderte Strategie.

Auch andere russische Führungspolitiker haben immer wieder deutlich gemacht, wie offen letztlich die Frage langfristiger Gebietsziele ist. Als vor vier Wochen über einen möglichen zweijährigen Liefervertrag für Flüssiggas zwischen den USA und der Ukraine berichtet wurde, sagte Russlands ehemaliger Präsident und jetzige Vizechef des Sicherheitsrats, Dmitrij Medwedjew: "Wer sagt denn, dass die Ukraine in zwei Jahren überhaupt noch auf der Weltkarte existieren wird?" An diesem Donnerstag schrieb Medwedjew auf seinem Telegram-Kanal wieder darüber, dass die Ukraine womöglich "von der Weltkarte verschwinden" könnte. Noch weiter ging das tschetschenische Oberhaupt Ramsan Kadyrow. Er schrieb auf Telegram von einem "Plan, die Nato-Staaten zu demilitarisieren. Nach der Einnahme von Kiew zuerst an der Reihe: Polen".

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