Sicherheitspolitik:Eine Frage von Minuten

Lesezeit: 2 min

Wer bedroht wen? Russland hat vor zwei Jahren Mittelstreckenraketen vom Typ "9M729" angeschafft und stolz präsentiert. (Foto: Pavel Golovkin/dpa)

Russland fürchtet neue Mittelstreckenwaffen der USA oder anderer Nato-Staaten. Allerdings hat nur Moskau selbst atomare Marschflugkörper angeschafft.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Wenn Präsident Wladimir Putin die angebliche Bedrohung Russlands durch die Nato und die Ukraine an die Wand malt, kommt er immer auf Raketen zu sprechen. Sollte die westliche Verteidigungsallianz "Angriffssysteme" in dem Nachbarland stationieren, so rechnet der Kremlchef vor, könnten deren Flugkörper Moskau in sieben bis zehn Minuten erreichen, im Falle von Hyperschall-Gleitern gar in fünf Minuten - womöglich bestückt mit Atomsprengköpfen. "Das ist eine ernste Herausforderung für uns, eine Herausforderung für unsere Sicherheit", warnte Putin bei einer Rede im Verteidigungsministerium.

Generell gelten Mittelstreckenraketen als besonders destabilisierend, weil ihre kurzen Flugzeiten eine Reaktion binnen weniger Minuten erforderlich machen: Wenn die Seite, die sich als Ziel eines nuklearen Angriffs sieht, verhindern will, dass ihr Atomarsenal Ziel eines gegnerischen Erstschlags wird, muss sie ihre Raketen starten, bevor die der anderen Seite einschlagen. Das birgt das Risiko von Fehleinschätzungen, wie sich im Kalten Krieg gezeigt hat.

1987 schlossen deswegen US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow den INF-Vertrag über das Verbot nuklearer Mittelstreckensysteme, um das Risiko eines atomaren Schlagabtauschs in Europa zu reduzieren. Dieser führte zur Abrüstung aller bodengestützten Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern auf beiden Seiten.

SZ PlusSicherheitspolitik
:Putins geheime Söldnerarmee

Private Militärfirmen sind in Russland verboten. Doch der Kreml nutzt insgeheim die berüchtigte Söldnergruppe Wagner für verdeckte Militäreinsätze. Das kann auch Auswirkungen auf die Bundeswehr haben.

Von Bernd Dörries, Kapstadt, und Paul-Anton Krüger, Berlin

Den Vertrag hat US-Präsident Donald Trump im Oktober 2018 gekündigt, weil Russland nach Überzeugung der USA und aller anderen Nato-Staaten eine Waffe mit etwa 2500 Kilometern Reichweite entwickelt und getestet hat. Russland leugnet bis heute, dass der infrage stehende Marschflugkörper 9M729, bei der Nato SSC-8 Screwdriver genannt, gegen den INF-Vertrag verstößt, den Moskau inzwischen ebenfalls gekündigt hat.

Laut Erkenntnissen westlicher Geheimdienste hat Russland den Marschflugkörper, der von Lastwagen aus abgefeuert werden kann und damit schnell verlegbar ist, bereits 2019 bei der Truppe eingeführt. Mehrere Bataillone mit dem neuen Waffensystem sind im Militärbezirk West stationiert, der an die Nato-Staaten grenzt. Damit könnte Russland jeden Ort in Mitteleuropa erreichen - binnen weniger Minuten. Zudem hat Moskau atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen in der Exklave Kaliningrad aufgestellt, die zwischen Polen und Litauen an der Ostsee liegt.

Russland fordert von den USA und der Nato, keine Mittelstreckenwaffen in Reichweite des russischen Territoriums aufzustellen, würde nach dem russischen Entwurf für zwei Abkommen über Sicherheitsgarantien aber seine eigenen, mobilen Systeme behalten - und diese im Krisenfall schnell näher an die Nato heranverlegen können.

Waffensysteme dieser Kategorie existieren allerdings derzeit weder in der Ukraine, noch in den europäischen Mitgliedstaaten der Nato. Das westliche Militärbündnis hat auch trotz der russischen Stationierung von neuen Mittelstreckenwaffen keine Pläne dazu, wie die Staats- und Regierungschefs auf dem Nato-Gipfel im Juni bekräftigt haben. Überdies ist in der Nato-Russland-Grundakte von 1997 die Stationierung von Atomwaffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder ausgeschlossen.

Allerdings wirft Russland den USA vor, mit der Aufstellung von Nato-Raketenabwehrsystemen in Rumänien gegen den INF-Vertrag verstoßen zu haben und sich eine Option für die landgestützte Stationierung von Angriffswaffen verschafft zu haben. Am Stützpunkt Deveselu in Rumänien ist seit fünf Jahren eine Anlage mit dem System Aegis Ashore im Einsatz, die ursprünglich zur Abwehr ballistischer Raketen von Kriegsschiffen aus entwickelt worden ist; eine weitere Anlage soll im kommenden Jahr im polnischen Redzikowo in Betrieb gehen. Russland argumentiert, dass aus den MK-41-Startkanistern nicht nur Luftabwehrraketen, sondern auch nuklearfähige Tomahawk-Marschflugkörper und Raketen abgeschossen werden können. Die USA halten dem entgegen, dass dafür die gesamte Elektronik und Feuerleitanlage ausgetauscht werden müsste - was nach russischer Ansicht aber nur kurze Zeit braucht.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSicherheitspolitik
:Was hinter dem Konflikt zwischen Russland und der Nato steckt

Russland setzt den Westen mit Kriegsrhetorik unter Druck, die Allianz reagiert besorgt. Eine gewisse Gesprächsbereitschaft hat Putin offenbar signalisiert. Doch kann das die Lage beruhigen?

Von Daniel Brössler, Berlin, und Matthias Kolb, Brüssel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: