Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, wie ein einfacher Bürger der Sowjetunion den 19. August 1991 erlebte, muss nach Jekaterinburg an den Ural fliegen, das Jelzin-Zentrum suchen und sich dort im zweiten Stock auf eine abgewetzte Klappcouch setzen.
Der Raum ist eingerichtet wie ein Wohnzimmer in den letzten Jahren der UdSSR: die braune Schrankwand, in der Vitrine Kristall und Familienfotos, die Sammelausgabe mit Klassikern der Weltliteratur im Regal und eine Gorki-Büste. Auf einer Kommode steht ein orangenes Telefon mit Wählscheibe. Es klingelt. "Hallo? Hast du die Nachrichten gehört? Ein Komitee für den Ausnahmezustand hat die Macht übernommen, Gorbatschow soll krank sein, in Moskau fahren Panzer auf den Straßen." Der Fernseher geht an, es läuft eine Aufführung von Schwanensee in Endlosschleife. Aus dem Radiogerät an der Wand spricht knisternd Radio Swoboda aus München: Ein Staatsstreich ist im Gange.
Viele Russen können die Nachstellung offenbar gebrauchen, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Bei einer Umfrage des unabhängigen Levada-Instituts konnte nur jeder Zweite beantworten, was an diesem Freitag vor 25 Jahren war. Die anderen haben es vergessen, verdrängt, oder es haben sich so viele neue Sorgen angesammelt, dass die Vergangenheit verblasste. In den staatlichen Medien spielt der Jahrestag kaum eine Rolle. Dabei waren es jene Tage im August 1991, als für alle sichtbar wurde, dass dem kommunistischen System die Kraft ausgeht und die Zeit eines neuen Russlands gekommen ist.
Jetzt kam Boris Jelzins Stunde
Im Januar hatte Michail Gorbatschow, damals Staatspräsident der Sowjetunion, Aufstände in Riga und Vilnius blutig niederschlagen lassen. Moskau wollte die Unabhängigkeitserklärungen der Litauer und Letten vom März 1990 nicht anerkennen. Für den 20. August war die Unterzeichnung eines Föderationsvertrags geplant, der den Sowjetrepubliken mehr Eigenständigkeit geben sollte. Eine Gruppe reaktionärer Funktionäre in KGB, Militär und Partei wollte das verhindern, um den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten. Sie ließen Gorbatschow in seinem Sommerhaus auf der Krim festsetzen und seine Telefone abschalten. Am Morgen des 19. August verbreiteten sie über die Nachrichtenagentur Tass, Gorbatschow sei krank, ein Staatskomitee für den Ausnahmezustand führe die Geschäfte - unter anderem die ZK-Mitglieder Wladimir Krjutschkow, Chef des KGB, Dmitrij Jasow, Verteidigungsminister, und Gennadij Janajew, Innenminister.
Doch seit dem frühen Morgen organisierte Boris Jelzin den Widerstand. Zwei Monate zuvor war er bei den ersten russischen Präsidentschaftswahlen zum Präsidenten der Russischen Teilrepublik gewählt worden. Am Ausgang des Putsches sollte sich zeigen, ob die Macht weiter von der Partei ausgeht, oder vom Volk. Um ein Uhr mittags kletterte er vor dem Obersten Sowjet auf einen Panzer und erklärte den Ausnahmezustand für ungesetzlich. Dass die Verschwörer sich ihrer Sache keineswegs so sicher waren, wurde am Nachmittag deutlich, als der Vizepräsident der UdSSR, Gennadij Janajew, auf einer Pressekonferenz des Staatskomitees mit zitternden Händen seine Erklärung ablas.
Zwei Tage lang verteidigten Zehntausende das Weiße Haus an der Moskwa gegen das Militär. Mehrere Einheiten liefen zu Jelzin über. Als sich niemand traute, den Befehl zu geben, auf das Volk zu schießen, war klar, dass der Putsch gescheitert war. Der Staatsanwalt der russischen Sowjetrepublik ließ die Putschisten verhaften; am 22. August wehte die russische Fahne über dem Weißen Haus. Tags darauf ließ Jelzin die kommunistische Partei verbieten.
Eine Weile schien es, als könne man in Russland einen Demokraten daran erkennen, dass er in jenen Augusttagen auf der Seite von Jelzin stand. Aber so einfach ist das nicht. Verteidigungsminister Sergej Schojgu, 1991 ein Verbündeter Jelzins, erklärte vergangenes Jahr, sollten sich ähnliche Ereignisse wiederholen, werde die Armee "nicht mehr einfach beiseitestehen".
Einige weniger bekannte Figuren treten erst jetzt aus dem Hintergrund, zum Beispiel der Mann im dunklen Anzug, der mit Boris Jelzin auf dem Panzer vor dem Weißen Haus stand, direkt neben der russischen Fahne: Es ist Viktor Solotow, damals im KGB zuständig für die Sicherheit der Regierung. Er war viele Jahre Wladimir Putins oberster Personenschützer, bis der ihn im April zum Chef einer neu gegründeten Nationalgarde machte. Zu deren Aufgaben gehört unter anderem die Niederschlagung solcher Aufstände.
Sogar die Toten regen sich wieder
Nach einer Amnestie 1994 ließen die Putschisten ihre alten Verbindungen wieder aufleben. Als Wladimir Putin am 7. Mai 2000 erstmals als Präsident vereidigt wurde, war der Ex-KGB-Chef und Putschist Wladimir Krjutschkow unter den Ehrengästen. Dmitrij Jasow ehrten Putin und Schojgu mit einem Festakt zu seinem 90. Geburtstag. "Manchmal kommen sie zurück", titelte die regierungskritische Zeitschrift New Times diese Woche. Inzwischen stamme jeder Zweite in der russischen Nomenklatur aus dem Geheimdienst, schreibt die Chefredakteurin Jewgenija Albaz: "Sie sind zurück. Und mit ihnen der Verschwörungsglaube, die Suche nach Feinden, der Kampf gegen Andersdenkende und der Kalte Krieg."
Sogar die Toten regen sich wieder: In der Nacht auf den 23. August 1991 stürzten Demonstranten die Statue des Geheimdienst-Gründers Felix Dserschinski vor der KGB-Zentrale vom Sockel. Jetzt wurde das Denkmal renoviert. Ein Referendum, den "Eisernen Felix" wieder zurück an seinen Platz vor der Lubjanka zu stellen, wurde im Frühjahr verschoben. In der Levada-Umfrage sagten nur 16 Prozent, sie würden heute wieder auf die Straße gehen, um die Demokratie zu verteidigen.