Reichspogromnacht:1938 ist weit weg, 1938 ist nah

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Das Gedenken an die Reichspogromnacht darf nicht dafür benutzt werden, alte ideologische Rituale neu zu inszenieren.

Heribert Prantl

In wenigen Tagen jährt sich die Reichspogromnacht zum siebzigsten Mal. Nicht nur für ganz junge Menschen liegt diese Nacht, die der Auftakt zur Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa war, Äonen zurück. Es wäre Aufgabe der Politik, dabei mitzuhelfen, dass die Erinnerung wach bleibt. Doch die Parteipolitik ist mit anderem beschäftigt. Für sie ist dieser Tag immerhin so nah, dass er sich für merkwürdige Spiele eignet: Union und Linkspartei streiten darüber, ob nach dem Krieg der Antisemitismus in der DDR oder der in der Bundesrepublik schlimmer war. Die Wahrheit ist: Er war im Osten und im Westen schlimm genug. Und er ist es leider immer noch.

Er zeigt sich nicht nur in achthundert Gewalttaten jährlich, nicht nur in umgestürzten Grabsteinen und nicht nur dann, wenn in der U-Bahn einem Mädchen der Davidstern vom Halskettchen gerissen wird. Man kriegt den Antisemitismus in vielen Diskussionen als Dreingabe. Von der Finanzkrise bis zur israelischen Politik gibt es genug Gelegenheiten, bei denen sich die Diskutanten antisemitischer Klischees bedienen: Man wird doch noch sagen dürfen, dass die "Lehmann-Brothers" Juden sind ...

Zum aktuellen Streit: Rechtskonservative aus der CDU/CSU werfen der Linkspartei vor, dass die DDR antisemitisch gewesen sei. Die Union weigert sich daher, zusammen mit der Linkspartei im Bundestag eine gemeinsame Erklärung zum Gedenktag abzugeben. Und die Linkspartei liefert daraufhin eine Suada von Erklärungen ab, die den Antisemitismus der DDR verharmlost. Das ist eine törichte Fortsetzung des Kalten Krieges.

Sowohl die CDU als auch die Vorgängerin der Linkspartei haben so viel braunen Dreck am Stecken, dass sie damit nicht auf andere zeigen sollten. Muss man die CDU an ihre Geschichte von Hans Globke bis Martin Hohmann erinnern? Muss man die Linkspartei erst in die beeindruckende Ausstellung führen, die den Titel trägt "Das hat's bei uns nicht gegeben - Antisemitismus in der DDR"? Es ist traurig und beschämend, wenn der Gedenktag dafür benutzt wird, alte ideologische Rituale neu zu inszenieren. Es kehre ein jeder vor seiner Tür.

Sicherlich: Das offizielle Deutschland hat sich bemüht und bemüht sich immer noch. Es gab Wiedergutmachung, schon unter Konrad Adenauer; es gibt die Woche der Brüderlichkeit.Christlich-jüdische Gemeinschaften sind entstanden, jüdische Gemeinden wurden neu- und wiedergegründet, Gedenkstätten werden gepflegt, Denkmäler errichtet, auch mitten in Berlin; an den Feiertagen der Republik sitzen die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in der ersten Reihe. Das alles ist schön und gut, aber nicht ausreichend, wenn sich die Antisemitismen wieder einschleichen in die Gesellschaft, zugleich die letzten Zeitzeugen sterben und die Erinnerung an 1938 verblasst.

Politiker fordern gern den "Mut" gegen neue braune Gewalt. Dieser Mut beginnt damit, parteipolitischen Hickhack beim Thema Antisemitismus zu beenden.

© SZ vom 05.11.2008/beu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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