Etliche führende SPD-Politiker rücken nach dem Platzen der Jamaika-Sondierungen von Neuwahlen ab und bringen eine Unterstützung einer Unions-geführten Minderheitsregierung als Option ins Spiel. "Neuwahlen wären ein Armutszeugnis", sagte der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner in Berlin. Für eine große Koalition sei die SPD nach den Worten Stegners aber unverändert nicht zu haben: "Eine Friss-oder-stirb-Haltung wird die SPD nicht einnehmen", sagte Stegner. Ein Abrücken vom Groko-Ausschluss würde den Kern der sozialdemokratischen Glaubwürdigkeit beschädigen. "Nur weil Angela Merkel Minderheitsregierungen nicht für möglich hält, heißt es nicht, dass es nicht andere tun. Für die SPD wird bei allen Gesprächen die Durchsetzung der Inhalte im Vordergrund stehen", sagte auch Matthias Miersch, Sprecher der SPD-Linken im Bundestag.
Auch SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel hält eine Minderheitsregierung für denkbar. "Das ist eine Frage, die in Gesprächen auch erörtert werden muss", sagte der hessische SPD-Landesvorsitzende im ZDF. Eine Neuauflage der großen Koalition lehne seine Partei derzeit ab. "Wir wollen keine österreichischen Verhältnisse." Dort hätten die ständigen schwarz-roten Bündnisse zu einer Stärkung der politischen Ränder geführt. Auch aus inhaltlichen Gründen sehe die SPD "momentan keine Basis" für eine große Koalition.
Druck auf Schulz wächst
Gleichzeitig wächst nun der Druck auf Parteichef Martin Schulz, seinen Neuwahlkurs zu überdenken. "Ich finde im Grundgesetz keinen Artikel, der Neuwahlen vorschreibt, wenn der FDP-Vorsitzende Sondierungsgespräche abbricht", sagte Achim Post, Chef der Landesgruppe NRW, in der am Donnerstag erscheinenden Ausgabe des Spiegel. "Im Gegenteil: Parteien und Fraktionen sind in der Pflicht, gerade in einer schwierigen Lage wohlüberlegt Schritt für Schritt vorzugehen."
Regierungsbildung:"Jetzt ist Angela Merkel am Zug"
Die Stimmung in der SPD kippt: Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt fordert, sich Gesprächen mit der Union nicht zu verweigern - und schließt eine neue große Koalition nicht aus.
"Jetzt irgendwelche hektischen Entscheidungen zu treffen bringt gar nichts", sagt der Chef des Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, wie zuvor der SZ nun auch dem Magazin. "Bevor wir vor den Wähler treten, müssen wir alle Möglichkeiten ausloten." Kritik kam außerdem von den pragmatischen "Netzwerkern". "Neuwahlen sind nicht der richtige Weg", betonte deren Sprecher Martin Rabanus.
Schulz mahnt seine Partei zur Ruhe: "Die SPD ist sich vollständig ihrer Verantwortung in der momentan schwierigen Lage bewusst", sagte Schulz der Deutschen Presse-Agentur vor seinem Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag. Es sei gut, dass der Bundespräsident die Initiative ergriffen habe. "Ich bin sicher, dass wir in den kommenden Tagen und Wochen eine gute Lösung für unser Land finden", sagte Schulz.
Auch in einer Sitzung der Bundestagsfraktion der SPD gab es Ärger über Schulz' kategorischen Neuwahlkurs. So beschwerte sich Teilnehmern zufolge unter anderem der bayerische Abgeordnete Florian Post darüber, dass die SPD seit der Wahl nur mit Postengeschacher auffalle: "Wenn wir noch mal so einen genialen Wahlkampf führen wie im Sommer, dann landen wir bei einer Neuwahl bei 20,5 minus x, nicht 20,5 plus x", sagte er in Richtung des Parteivorsitzenden.
Ähnlich äußerte sich auch die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt im SZ-Gespräch: "Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche befindet man sich in einer anderen Situation als noch am Abend der Bundestagswahl, an dem meine Partei eine große Koalition ausgeschlossen hatte."
Der frühere SPD-Abgeordnete und ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestages, Reinhold Robbe, sagte dem Blatt: "Der Druck auf Martin Schulz steigt in diesen Stunden extrem", er solle besser den Weg für eine große Koalition freimachen. Auch die Bundestagsfraktion "steht nicht mehr geschlossen hinter ihm". Nachdem sich die FDP verweigert habe, müsse die SPD "in dieser Regierungskrise zu ihrer Verantwortung stehen". Robbe selbst ist allerdings nicht mehr Mitglied des Bundestages.
"Eine Neuwahl ist die allerletzte Option, die man ziehen sollte", sagte auch der Sprecher der ostdeutschen SPD-Bundestagsabgeordneten, Stefan Zierke, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Stattdessen seien aus seiner Sicht neben einer Minderheitsregierung "auch Gespräche über eine große Koalition denkbar". Zudem ließen sich "die Wünsche der Wähler besser umsetzen, wenn man an der Regierung ist".
Die SPD-Spitze hatte am Wochenbeginn nach dem Jamaika-Aus auf Vorschlag von Parteichef Schulz einstimmig folgenden Beschluss gefasst: "Wir halten es für wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger die Lage neu bewerten können. Wir scheuen Neuwahlen unverändert nicht."
Die FDP hatte die Gespräche mit Union und Grünen über ein Jamaika-Bündnis am späten Sonntagabend abgebrochen. Die SPD hatte vor acht Wochen am Abend der Bundestagswahl nach dem Absturz auf ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis entschieden, in die Opposition zu gehen.
Lindner schließt neue Jamaika-Verhandlungen aus
FDP-Chef Christian Lindner ist derweil Gerüchten über neue Jamaika-Verhandlungen entgegengetreten. "Eine Wiederaufnahme der Gespräche schließe ich aus", sagte Lindner gegenüber Spiegel Online. Er fügte hinzu: "Die Gespräche zu einer Jamaika-Konstellation haben wir aufgrund widersprüchlicher Inhalte beendet. Danach haben die Grünen mit Verschwörungstheorien und Anfeindungen bestätigt, dass es nie das notwendige Vertrauensverhältnis gab. Auf absehbare Zeit ist daher eine Zusammenarbeit mit den Grünen auf Bundesebene für die FDP nicht vorstellbar."
Zuvor war der Eindruck entstanden, dass solche Gespräche zum jetzigen Zeitpunkt nicht kategorisch ausgeschlossen seien. Die Hürden seien aber hoch, hatte Generalsekretärin Nicola Beer dem Sender n-tv gesagt. "Es müsste ein komplett anderes Paket auf den Tisch." Wenn es möglich sei, "eine moderne Republik zu bauen in den nächsten Jahren, sind wir die letzten, die sich Gesprächen verweigern".