Es gibt Fotos, die sind wie eingebrannt im kollektiven Gedächtnis. Dieses beklemmende Bild gehört dazu. Es zeigt den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, dem ein Pappdeckel-Schild um den Hals gehängt wurde; darauf steht in Großbuchstaben: "Seit 31 Tagen Gefangener". An der Wand dahinter prangt ein Symbol: ein Stern mit fünf Zacken, davor eine Maschinenpistole und drei Buchstaben - RAF.
Im Gesicht Schleyers sieht man Resignation, Traurigkeit und Wut, man sieht das Ringen um Selbstbeherrschung. Es ist ein Bild der Erschöpfung, der Ohnmacht und Verzweiflung, man erkennt in diesem Gesicht Widerstand und Flehen - vielleicht auch noch Spuren von Hoffnung. Es war eine vergebliche Hoffnung. Vergeblich hat dieser Mann aus seiner Gefangenschaft an die Bundesregierung appelliert, den Forderungen seiner Entführer nachzugeben, die die Freilassung inhaftierter RAF-Terroristen erzwingen wollten. Vergeblich hat er über die Verzögerungstaktik des Krisenstabs geklagt; gefasst hat er seine Familie gegrüßt. Zwölf Tage später wurde er von der RAF erschossen.
Vor 40 Jahren begann dieses elende Drama, vor vierzig Jahren begann der sogenannte Deutsche Herbst; er wird auch die "bleierne Zeit" genannt. Es war eine Zeit, die mit der Entführung Schleyers begann und mit dessen Ermordung 45 Tage später nicht endete. In diesen 45 Tagen regierte in Deutschland nicht die Bundesregierung, sondern ein Krisenstab in einem nicht erklärten Ausnahmezustand. In diesem Krisenstab saßen, 45 Tage lang, neben dem Kanzler Helmut Schmidt (SPD) auch der Oppositionschef Helmut Kohl (CDU) und, natürlich, Horst Herold, der genialische Chef des Bundeskriminalamts. In diesen 45 Ausnahmetagen wurden hastig Ausnahmegesetze erlassen. Sie wurden nie mehr aufgehoben. Sie zählen heute zu den ganz normalen Straf- und Strafprozessrechtsregeln. Das ist es offenbar, was von der RAF auf Dauer geblieben ist.
"Big Raushole" hieß die mörderische Aktion im RAF-Jargon
Am 5. September 1977 war Hanns Martin Schleyer auf dem Heimweg von seinem Büro in Köln zu seiner Wohnung, als Attentäter das Feuer eröffneten. Fünf Schüsse trafen den Fahrer des Arbeitgeberpräsidenten, Hans Marcisz. Den Polizeimeister Roland Pieler trafen 21 Schüsse, 60 Schüsse trafen den Polizeihauptmeister Reinhold Brändle, 26 Schüsse den Polizeimeister Helmut Ulmer. Sie alle starben an Ort und Stelle. Schleyer wurde plangemäß entführt, in eine Hochhaus-Wohnung am Renngraben 8 in Erftstadt-Liblar gebracht, dort zunächst in einem Schrank angekettet, später in einem Haus in Den Haag gefangen gehalten.
Die RAF hatte Schleyer als Opfer ausgewählt zum einen, weil er ihr als Repräsentant der Hitlergeneration galt, zum anderen, weil Schleyer, auch weit jenseits des Sympathisantenlagers der RAF, als Negativfigur galt, als Verkörperung des Fünfzigerjahre-Kapitalismus. Der Terrorist Stefan Wisniewski sagte später, man habe ursprünglich die Idee gehabt, Schleyer mit seiner SS-Nummer und einem Schild "Gefangener seiner eigenen Geschichte" abzulichten. Diese Idee habe die RAF dann verworfen, weil sie befürchtete, der öffentliche Druck auf die Regierung, die Forderungen der Geiselnehmer zu erfüllen, könnte schwächer werden.
"Big Raushole" nannte die RAF ihre mörderische Entführungsaktion, sie wollte die Freilassung der inhaftierten Gesinnungsgenossen erpressen. Vergeblich. Am 13. Oktober 1977 wurde, auch zu diesem Zweck, die Lufthansa-Maschine Landshut auf dem Flughafen Mallorca von einem palästinensischen Terrorkommando entführt. Wieder vergeblich. Die GSG 9 erstürmte das Flugzeug am 18. Oktober auf dem Flughafen von Mogadischu, befreite die 86 Geiseln, erschoss drei Luftpiraten. Daraufhin begingen die RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Bis heute wird darüber diskutiert, ob womöglich die Selbstmorde vom Verfassungsschutz beobachtet und geduldet worden sind. Im Umfeld der RAF verbreitete sich die falsche These von einer staatlichen Hinrichtung. Am 19. Oktober 1977 fand die Polizei die Leiche des erschossenen Hanns Martin Schleyer in Mühlhausen/Elsass im Kofferraum eines Autos.
"Im Namen der deutschen Bürger bitte ich Sie um Vergebung."
Kurz vor Mitternacht rief Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel bei Schleyers Sohn Hanns-Eberhard an: "Der Tod Ihres Vaters steht nunmehr amtlich fest", sagte er ihm. Als Justizminister hatte Vogel den Auftrag, während der Entführung täglich mit dem Sohn zu telefonieren und ihn über den Fortgang der Fahndung zu informieren. "Von den Hunderttausenden Gesprächen, die ich in meinem Leben geführt habe", erinnert sich Vogel, "waren das nicht nur die ungewöhnlichsten, sondern auch die schwersten." Bundeskanzler Schmidt gab am nächsten Tag im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Er beendete sie mit den Worten: "Gott helfe uns."
Am 25. Oktober 1977 führte Bundespräsident Walter Scheel Waltrude Schleyer, die Witwe, durch den Mittelgang der Stuttgarter Domkirche St. Eberhard. Sie nahm in der ersten Reihe Platz - zwischen Scheel und dem Bundeskanzler. Helmut Schmidt saß zusammengesunken da, einmal hielt er die Hand über die Augen, dann über den Mund, dann wieder über die Augen. Der Bundespräsident stand auf, verneigte sich vor dem Schmerz der Angehörigen, hielt tief bewegt die Trauerrede. Es war wohl eine der schwierigsten Ansprachen, die ein Bundespräsident je hat halten müssen.
Vergeblich hatte der Sohn Schleyers die Bundesregierung bestürmt, den Forderungen der Entführer nachzugeben und seinen Vater damit zu retten. Vergeblich hatte der Sohn beim Bundesverfassungsgericht den Antrag gestellt, die Bundesregierung zur Rettung des Vaters zu verpflichten. Das Urteil des höchsten Gerichts, in konzentrierter Eile vom großen Staatsrechtler Konrad Hesse als Berichterstatter formuliert, ist beeindruckend lapidar. Es wurde nach nächtlicher Verhandlung im Morgengrauen verkündet, lehnte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Bundesregierung ab. Das Urteil sagt, dass das Grundgesetz eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen (hier dem Entführungsopfer Schleyer), sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger begründe. Die Festlegung auf ein bestimmtes Mittel - also den von Schleyer begehrten Austausch mit den RAF-Gefangenen - könne, so die Richter, schon deshalb nicht erfolgen, "weil dann die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar würde". Helmut Schmidt hat später wiederholt bekannt, er fühle sich noch immer verstrickt in Schuld - er habe aber richtig gehandelt. Bundespräsident Scheel ging dieser Schuld in seiner Trauerrede nicht aus dem Weg: "Im Namen der deutschen Bürger bitte ich Sie, die Angehörigen von Hanns Martin Schleyer, um Vergebung."