Serie "Deutscher Herbst":So wird Schleyer 1977 Geisel der RAF

Schleyer-Entführung

Der Tatort in Köln am Tag des Überfalls: Am Boden vor der geöffneten Autotür liegt die Leiche eines getöteten Polizisten.

(Foto: dpa)

Linke Terroristen verschleppen den Arbeitgeberpräsidenten, ein Kommando entführt den Lufthansa-Jet "Landshut" - am Ende sind Schleyer und die RAF-Spitze tot. Die SZ dokumentiert die dramatischen Ereignisse vor 40 Jahren in einer Serie.

Von Robert Probst

Vor 40 Jahren stand die Bundesrepublik vor ihrer bislang größten Herausforderung. Die Rote Armee Fraktion (RAF), die im April 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback und im Juli den Bankier Jürgen Ponto ermordet hatte, entführte den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Ziel war es, die RAF-Anführer und andere Kampfgenossen aus den Gefängnissen freizupressen.

Die SZ dokumentiert die dramatischen Tage der Schleyer-Entführung, vom 5. September bis zum 19. Oktober, für die sich der Begriff "Deutscher Herbst" eingeprägt hat. Hinzu kommen politische Einschätzungen von damals und heute sowie neue Erkenntnisse der Zeitgeschichte.

Tag 1: Montag, 5. September. Die Entführung

Bis zur Haustür in der Raschdorffstraße 10 wären es noch 300 Meter gewesen. Im Kölner Villenviertel Braunsfeld hat der Vorsitzende des Bundesverbands der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hanns Martin Schleyer, seinen Zweitwohnsitz genommen.

Seit dem Mord an dem Bankier Jürgen Ponto am 30. Juli gilt für Schleyer "Sicherheitsstufe 1", bewaffnete Personenschützer begleiten den 62-Jährigen; bei der Roten Armee Fraktion (RAF) steht er ganz oben auf der Liste der Vertreter des verhassten Kapitalismus. Das Haus mit Schleyers Wohnung liegt in einer Einbahnstraße, die Bewacher können also nicht wie üblich ihre An- und Abfahrtswege variieren.

Am Montag, 5. September, macht sich Schleyer in seinem ungepanzerten blauen Mercedes 450 auf den Weg vom Büro in den Feierabend. Am Steuer sitzt sein Fahrer Heinz Marcisz, 41.

In einem weißen Mercedes 280 E folgen die Personenschützer des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, Reinhold Brändle, 41, Helmut Ulmer, 24, und Roland Pieler, 20.

Um 17.28 Uhr fährt der Konvoi von der Friedrich-Schmidt-Straße in die Vincenz-Statz-Straße ein - noch zweimal rechts abbiegen und eine weitere Fahrt wäre ohne Zwischenfälle überstanden gewesen.

Doch dann muss Marcisz scharf abbremsen, ein anderer Pkw stößt plötzlich aus einer Einfahrt und versperrt den Weg. Der Mercedes der Polizisten lässt sich nicht mehr rechtzeitig stoppen, er fährt auf Schleyers Wagen auf. Kurz darauf peitschen Schüsse durch das Viertel, Glasscheiben splittern. Etwa zwei Minuten später rast ein weißer VW-Bus aus der Vincenz-Statz-Straße heraus und verschwindet Richtung Westen.

Einige Anwohner glauben zunächst an Filmaufnahmen, doch wenige Augenblicke später erkennen die ersten die grausame Realität.

"Deutscher Herbst"

Quellen und Literatur zur SZ-Serie über den RAF-Terrorismus 1977. Zur Übersicht

Um 17.33 Uhr geht bei der Polizei ein Notruf ein: "Hier schießen mehrere Leute mit Maschinenpistolen. Mehrere Tote und Verletzte." Die kurz darauf eintreffenden Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte stellen fest, dass die drei Personenschützer und Schleyers Fahrer tot sind - Schleyer selbst ist verschwunden.

Die Ermittlungen der Polizei ergeben nach und nach: Mindestens fünf RAF-Mitglieder (so der damalige Erkenntnisstand, es waren jedoch "nur" vier Täter) haben eine eigentlich simple Falle aufgebaut; sie rangieren einen gelben Mercedes als "Sperrfahrzeug" auf der Straße, zusätzlich schieben sie einen blauen Kinderwagen, in dem sie ihre Langwaffen versteckt haben, auf die Fahrbahn, damit ein Ausweichen von Schleyers Auto unmöglich wird.

Nachdem so die beiden Pkw gestoppt sind, eröffnen die Terroristen - es sind Stefan Wisniewski, Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann und Willy-Peter Stoll - das Feuer: 50 Schüsse aus einer polnischen Maschinenpistole (WZ 63), 39 aus einem halbautomatischen Sturmgewehr (Heckler&Koch 43), elf aus einem Sturmgewehr (Heckler&Koch 93) und sieben Schrotpatronen aus einer Repitierflinte - alle auf Schleyers Begleiter und alle aus nächster Nähe.

Ulmer und Pieler gelingt es noch, zurückzuschießen, doch sie treffen keinen der Angreifer. "Alle vier Begleiter Dr. Schleyers verstarben wenige Minuten nach der Tat am Tatort."

Schnell macht die erschütternde Neuigkeit vom Attentat auf den Arbeitgeberpräsidenten und dessen Entführung die Runde. Details des Überfalls geben die Verantwortlichen an diesem Tag nicht bekannt, jedoch führt die Fahndung nach dem weißen VW-Bus schnell zum Erfolg.

In Bonn spricht man schon von "bösen Zeiten"

Ein Anwohner des Wiener Wegs 1b in Köln-Junkersdorf meldet sich gegen 19.45 Uhr bei der Polizei: Der gesuchte Wagen stehe in der Tiefgarage der Anlage. Darin finden die Beamten ein erstes, wie stets in Kleinbuchstaben verfasstes, Bekennerschreiben:

"an die bundesregierung sie werden dafür sorgen, dass alle öffentlichen fahndungsmassnahmen unterbleiben - oder wir erschiessen schleyer sofort ohne dass es zu verhandlungen über seine freilassung kommt. raf."

Am späten Abend gibt Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) im Fernsehen eine erste Stellungnahme zu der "blutigen Provokation in Köln" ab: "Uns alle erfüllt nicht bloß tiefe Betroffenheit angesichts der Toten, uns erfüllt alle auch tiefer Zorn über die Brutalität, mit der die Terroristen in ihrem verbrecherischen Wahn vorgehen. Sie wollen den demokratischen Staat und das Vertrauen der Bürger in unseren Staat aushöhlen. (...) Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten."

Das Innenministerium Baden-Württemberg teilt mit, dass in Stammheim zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen angeordnet worden seien. Dort sitzen die zu lebenslanger Haft verurteilten RAF-Terroristen Andreas Baader, Jan- Carl Raspe und Gudrun Ensslin; sie werden in andere Zellen verlegt.

Helmut Schmidt entscheidet, auf die Forderungen der Terroristen nicht einzugehen. In Bonn, damals noch Regierungssitz, prophezeit ein Mitglied des SPD-Fraktionsvorstands einem SZ-Reporter, "dass der Bundesrepublik böse Zeiten bevorstehen".

Die Serie erschien in einer ersten Version 2007 - und wurde für die Neuveröffentlichung leicht überarbeitet und erweitert. Die Rechtschreibung in Zitaten entspricht der Schreibweise der damaligen Zeit.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: