"Querdenken" in Berlin:Chronisch unterschätzt

Trotz Demonstrationsverbots bringt die Bewegung erneut Tausende Anhänger auf die Straße, unter ihnen auch Rechtsextreme. Die Polizei kann über weite Strecken nur zusehen.

Von Antonie Rietzschel, Berlin

Eigentlich hätte es für das Rasas auf dem Fürstenplatz im Westend ein ganz normaler Sonntagnachmittag werden sollen. Gäste, die im Biergarten in Ruhe Chicken Pudina Tikka oder Lalu Tangdi aus dem Tandoori-Ofen essen. Doch die Stühle des indischen Restaurants sind leer. Die Mitarbeiter haben den Zugang mit Tischen verbarrikadiert. Direkt dahinter haben sich Hunderte Menschen versammelt, sie stehen auf der Straße in den Vorgärten frisch sanierter Plattenbauten, mit Trillerpfeifen und Lautsprecherboxen. Sie halten Plakate in die Höhe. Auf einem werden Politiker als "Lakaien" von WHO und "Milliardären" verunglimpft. Dazwischen stehen behelmte Polizisten, versuchen, nicht zurückzuweichen vor den Demonstranten, die von hinten und vorne schieben. Worte wie "Feiglinge" und "Verbrecher" werden ihnen entgegengeschleudert.

Eigentlich hatte die Berliner Polizei für dieses Wochenende solche Demonstrationen verboten. Auch die für Sonntag geplante Kundgebung von "Querdenken" auf der Straße des 17. Juni mit 22 500 angemeldeten Teilnehmern durfte nicht stattfinden. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte die Verbote, wegen zu erwartender Verstöße gegen den Infektionsschutz.

Dennoch hatte "Querdenken" Unterstützer per Messengerdienst aufgerufen, nach Berlin zu kommen. Die Bewegung wollte an die Proteste vor einem Jahr anknüpfen, als sich in Berlin zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule 30 000 Menschen versammelt hatten, um gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu protestieren. Videoclips sollten die Erinnerung an das "Gemeinschaftsgefühl" wachrufen: Spielende Kinder, eine Frau, die Rosen an Polizisten verteilt, eng umschlungene Pärchen - Szenen, die den Eindruck vermitteln, bei "Querdenken" handle es sich noch immer um eine Ansammlung von Friedensbewegten.

Anfangs sieht es so aus, als hätten die Beamten alles im Griff

Tatsächlich ist diese Initiative mittlerweile ein Sammelbecken für antidemokratische Aktivisten, bei Demonstrationen werden rechtsextreme Gruppierung geduldet und der Gründer von "Querdenken", Michael Ballweg, pflegt Kontakte zur Reichsbürger-Szene. Bei Demonstrationen in Leipzig, Kassel oder Dresden griffen Protestierende Journalisten und Polizisten an. In den verschiedenen Gruppen des Messengerdienstes Telegram teilen Unterstützer von "Querdenken" auch Verschwörungsideologien und menschenfeindliche Inhalte. Die Sicherheitsbehörden haben auf die Radikalisierung der Szene reagiert. Der Verfassungsschutz beobachtet einzelne Akteure von "Querdenken". Die Polizei, die bei Demonstrationen trotz Verstößen gegen Auflagen bisweilen zurückhaltend agierte, geht mittlerweile in die Offensive.

Auch in Berlin sieht es zunächst so aus, als hätte die Polizei alles im Griff. Bereits am Samstag kontrollierten Beamte das Areal rund um das Brandenburger Tor, lösten kleinere Ansammlungen auf. Am Sonntagmorgen fordert Querdenken dann seine Anhänger auf, das Zentrum zu meiden. Bei Twitter macht schon der Hashtag #b0108flop die Runde.

Zunächst scheint es, als würde an diesem Tag, der aus Sicht von "Querdenken" den Auftakt eines "Sommer des Friedens" bilden sollte, nicht viel mehr stattfinden als ein weiterer Autokorso. Auf dem Parkplatz des Olympiastadions versammeln sich Wohnwagen, Kombis und Kleinbusse aus Starnberg, Ludwigslust und Meißen. Demonstranten, die den Aufzug zu Fuß begleiten wollen, schickt die Polizei wieder weg. Zu spät erkennen die Beamten, dass in den Telegram-Gruppen bereits ein weiterer Treffpunkt nicht weit vom Olympiastadion kursiert, sie unterschätzen, wie viele Menschen sich spontan auf den Weg machen. Kurz vor elf Uhr sperrt die Polizei die Brücke ab, die Richtung U-Bahn-Station Neu-Westend führt. Da steht ihr schon eine große brüllende Gruppe von Demonstranten gegenüber. Einzelne Beamten werden als "feige Sau" beschimpft, immer wieder kommt es zu Rangeleien.

Sie freuen sich über durchbrochene Polizeiketten und singen "Bella Ciao"

Es dauert nur wenige Minuten, bis die Demonstranten durch die Kette brechen. Zwei Beamte stehen Rücken an Rücken, eine ältere Frauen versucht, sie zu schubsen, woraufhin ein Polizist sein Pfefferspray zückt. Am Ende können die Beamten nur noch dabei zusehen, wie die Menschen jubelnd die Straße entlanglaufen. "Guck dir das an", sagt einer. Es klingt hilflos.

Von diesem Moment an liefert sich die Polizei, die nach eigenen Angaben mit 2 250 Beamten im Einsatz ist, ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel in den Straßenzügen Berlins. Tausende versuchen vom Westend Richtung Stadtzentrum zu laufen. Mit Straßensperren lenkt die Polizei die Demonstranten zunächst Richtung Messegelände, versucht, sie in kleinere Gruppen aufzuteilen, muss von Beamten gebildete Ketten jedoch wieder auflösen. Als es dann schließlich doch nicht mehr weitergeht, drehen die Demonstranten wieder um.

"Querdenken" veröffentlicht in den Telegram-Gruppen immer wieder neue Treffpunkte. Ein weiterer Demonstrationszug, angeführt vom Verschwörungsideologen Samuel Eckert und "Querdenken"-Anwalt Ralf Ludwig, zieht weiter durchs Westend. An verschiedenen Plätzen und Straßen kommt es immer wieder zu spontanen Ansammlungen. Die Strategie, so die Polizeikräfte auseinanderzuziehen, geht schließlich auf. Am Abend wird die Polizei von insgesamt etwa 5000 Teilnehmern sprechen und von rund 500 Festnahmen.

Eine Gruppe schafft es bis an die Siegessäule heran

Auf dem Fürstenplatz versuchen die Beamten am Nachmittag gar nicht erst, die Versammlung aufzulösen, obwohl keiner der Demonstranten Abstandsregeln einhält oder eine Maske trägt. Und auch in dem indischen Restaurant Rasas nehmen überforderte Mitarbeiter Bestellungen von Demonstranten an, Kaffee mit oder ohne Milch. Manche dürfen kurz aufs Klo. Im angrenzenden Park treffen sich Querdenker, die von anderen Versammlungen kommen. Ein Herr in blauem Hemd erzählt stolz, dass er dabei war, als eine der Polizeiketten überrannt wurde, im Hintergrund singen Demonstranten "Bella Ciao".

Am Nachmittag setzen sich mehrere Aufzüge Richtung Innenstadt in Bewegung, einige Querdenker versammeln sich am Alexanderplatz. Eine Gruppe Demonstranten schafft es tatsächlich bis an die Siegessäule heran, nicht so nah, dass sich Menschenmassen auf die Stufen setzen können, aber näher, als es der Polizei lieb sein kann. Die stellt Absperrgitter auf, drei Wasserwerfer gehen in Stellung, die Demonstranten werden zurückgedrängt, es kommt zu zahlreichen Festnahmen. Dann flüchten auch die Letzten. Nicht vor der Polizei, sondern vor einem heftigen Regenschauer.

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