Putschversuch in der Türkei:Die Wut, die viele Türken noch immer spüren

Was treibt den türkischen Präsidenten Erdoğan und seine Anhänger an - und wie wichtig ist ihnen die Religion? Fragen an Shadi Hamid, Experte für politischen Islam.

Interview von Hakan Tanriverdi, New York

Shadi Hamid ist Senior Fellow der amerikanischen Denkfabrik Brookings Institution und Experte für Politik des Nahen Ostens. In seinem aktuellen Buch "Islamic Exceptionalism. How the Struggle Over Islam is Reshaping the World" geht er der Frage nach, wie der Islam und das politische Zusammenleben der Gesellschaft zusammenhängen.

Das folgende Interview ist Produkt zweier Gespräche: Das erste fand Anfang Mai statt, kurz vor dem Rücktritt des damaligen AKP-Chefs Davutoğlu. Das zweite folgte Ende Juli nach dem gescheiterten Militärputsch.

SZ: Herr Hamid, eine Frage in unserem ersten Gespräch lautete: Ist die Angst, die Erdoğan umzutreiben scheint, gerechtfertigt.

Hamid: (lacht)

Wie würden Sie heute auf diese Frage antworten?

Die Angst war gerechtfertigt, daran gibt es keinen Zweifel. Nur wenige Menschen hätten gedacht, dass ein Putsch wahrscheinlich ist. Er hat türkische und ausländische Experten verblüfft. Die US-Regierung wurde auf jeden Fall überrascht. Für Erdoğan war das auch mehr als nur ein Putsch.

Inwiefern?

Es sollte einen Mordanschlag auf ihn geben. Eine halbe Stunde hat ihn davon getrennt, getötet zu werden. Und das ist in einer Zeit passiert, in der alle dachten, dass das türkische Militär keine Rolle mehr spielt.

Also geht es Erdoğan jetzt auch eher um das Überleben als um das Führen des türkischen Staates?

Nein, Erdoğan hat durchaus eine Vorstellung davon, in welche Richtung die Türkei sich entwickeln sollte. Er glaubt, dass er die Gesellschaft mit einem zentralisierten Staat nach seinem Wunsch formen kann. Er weiß noch nicht genau, wie das im Detail aussehen soll. Er ist kein Intellektueller, sondern ein Politiker, der seinen Instinkten vertraut. In welche Richtung er die Türkei aber grundsätzlich steuern will, das ist klar.

In welche denn?

Er will, dass die Türkei weniger säkular wird. Religiöser. Wie das in der Praxis aussehen wird, müssen wir abwarten. Die ersten Anzeichen deuten auf eine, wie ich es nenne, 'weiche Islamisierung' hin.

Was genau bedeutet das?

Ein paar Beispiele: Es gibt finanzielle Anreize für junge Paare, bereits früh zu heiraten. Anreize, mehr als zwei Kinder zu bekommen. Imam-Hatip-Schulen (die islamische Religionsgelehrte ausbilden, Anm. d. Red.) werden in ihrer Stellung aufgewertet.

Es ist eine weiche Islamisierung, weil sie nicht per Gesetz erzwungen wird. Am Ende sollen religiöse Türken in die Mitte der Gesellschaft geführt werden. All diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass sich die Türkei von ihrer laizistischen Vergangenheit entfernt.

Die moderne Türkei baut auf diesem Prinzip auf. Staat und Religion sind per Verfassung getrennt.

Ich glaube, dass viele Mitglieder der AKP diesen Teil der türkischen Verfassung tief im Inneren nicht mögen. Sie glauben nicht an den Laizismus. Vielleicht glauben sie aber an eine Art Säkularismus nach amerikanischem Vorbild. Es erscheint mir als normal, dass sie gerne eine Verfassung hätten, die auch islamische Werte reflektiert.

Ich glaube, in der Idealvorstellung Erdoğans wären die Prinzipien des Laizismus nicht länger in der Verfassung verankert. Aber das anzugehen, wird er sich nicht trauen, zumindest nicht in absehbarer Zukunft.

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