Gesundheit:Therapie am Küchentisch

Lesezeit: 3 min

"Jeder Patient ist eben anders": Die Psychologin Susanna Hartmann-Strauss in ihrer Praxis. (Foto: Uli Deck/dpa)

Wegen der Pandemie durften Psychotherapeuten ihre Patienten ohne Einschränkung online behandeln. Nun sollen Videositzungen wieder zurückgefahren werden. Betroffene protestieren.

Von Michaela Schwinn, München

Während der Pandemie eröffneten sich für die Psychotherapeutin Susanna Hartmann-Strauss ganz neue Welten: die Küchen, Wohnzimmer und Büros ihrer Klienten. Nur ein paar Klicks, und sie sah durch die Kamera, wie sie wohnten, ob es chaotisch aussah oder aufgeräumt, wie sie sich zu Hause, in ihrem gewohnten Umfeld, gaben. "Das waren völlig neue Einblicke", sagt sie.

Seit das Coronavirus ausbrach, behandelt Hartmann-Strauss viele ihrer Patienten per Videosprechstunde. Von Bildschirm zu Bildschirm statt von Angesicht zu Angesicht. Was als Notlösung begann, um Infektionen zu vermeiden, wurde bald zur Gewohnheit. Die Patienten waren zufrieden, die Nachfrage stieg, zwischenzeitlich behandelte sie 90 Prozent von ihnen aus der Ferne. Aber das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein.

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Denn mit dem Ende der pandemischen Lage lief auch eine Sonderregelung zur Videosprechstunde aus: Während der Pandemie durfte jede Praxis selbst entscheiden, wen sie wie oft aus der Ferne behandelt. Nun aber haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Krankenkassen die digitalen Arzttermine wieder begrenzt, wie schon vor Corona.

Zwar dürfen jetzt 30 Prozent der Behandlungen online durchgeführt werden - vorher waren es nur 20 Prozent, aber vielen Ärzten und Psychotherapeuten ist das trotzdem zu wenig. Nun müssen sie auswählen, wer bei der Therapie zu Hause auf der Couch bleiben darf und wer zurück in die Praxis kommen muss. "Das stößt bei vielen Patienten auf Unverständnis", sagt Hartmann-Strauss. Es sei doch gut so gewesen, sagten die meisten zu ihr, warum sollen wir das jetzt ändern?

Sollte das Gesundheitswesen nicht digitaler werden?

Das fragt sich auch Hartmann-Strauss, wie viele ihrer Kollegen und Kolleginnen. Denn die Onlinesitzungen haben sich bewährt: Laut einer Umfrage haben fast alle Psychotherapeuten in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren Behandlungen per Video durchgeführt - fast alle von ihnen zum ersten Mal. Das deutsche Gesundheitswesen schien endlich einen Schritt Richtung Digitalisierung zu machen. Und die neuen technischen Möglichkeiten halfen auch dabei, die immense Nachfrage nach therapeutischen Angeboten ein wenig aufzufangen.

Dass nun wieder alles zurückgedreht wird, zulasten vieler Patienten, wollte die Psychotherapeutin Kathrin Schallenberg aus Münster nicht einfach hinnehmen und startete eine Online-Petition gegen die Begrenzung der Videosprechstunden: Mehr als 43 000 Menschen haben diese bereits unterzeichnet.

Eines aber ist der Initiatorin der Petition wichtig: Die Behandlung zu Hause soll die an Ort und Stelle nicht ersetzen. Es soll ein zusätzliches Angebot sein für diejenigen Klienten, die von den Videositzungen profitieren, die ohne sie vielleicht sogar aus der Versorgung herausfallen würden. Auch Hartmann-Strauss kennt diese Fälle: Da ist die Frau, die mit dem Bus eineinhalb Stunden zu ihrer Praxis in Calw im Nordschwarzwald braucht: "Mit Anfahrt benötigt sie für die Sitzung jetzt vier Stunden statt 50 Minuten." Da ist der Unternehmensberater, der mal in München arbeitet, mal in Berlin. Und da ist die Angstpatientin, die es noch nicht schafft, ihre Wohnung zu verlassen.

Nicht für alle Patienten sei die Videobehandlung geeignet, erklärt Hartmann-Strauss: Für Akutfälle oder sehr impulsive Menschen sei das persönliche Gespräch besser. Manche sehnten sich auch danach, mal rauszukommen, vor allem während der Lockdowns. Aber es gebe eben auch Menschen, die sich zu Hause besser öffnen konnten, erzählt die Psychotherapeutin. Eine Patientin wickelte sich in ihre Lieblingsdecke ein, wenn sie von ihren Problemen erzählte. Eine andere holte ihre Ratte aus dem Käfig, ließ sie über ihre Schultern laufen. "Das beruhigte sie", erzählt Hartmann-Strauss, "jeder Patient ist eben anders." Gerade deswegen könne sie es nicht verstehen, warum es überhaupt eine Limitierung bei der Behandlung per Video gibt: "Wie die Therapie stattfindet, sollten allein Therapeut und Patient entscheiden."

Joachim Scholz sieht das etwas anders. Auch er setzte in den Hochphasen des Virus auf digitale Sprechstunden, aber der Psychotherapeut aus Hamburg findet es grundsätzlich richtig, dass diese begrenzt werden: "Patienten dauerhaft nur per Video zu behandeln, finde ich schwierig." Eine Begrenzung zum jetzigen Zeitpunkt hält aber auch er für falsch. Jede Woche fielen bei ihm Termine aus, sagt er, weil Patienten infiziert seien oder Risikokontakte gehabt hätten. "Vorher konnte ich diese Fälle alle in Videosprechstunden auffangen."

Ist der persönliche Arzttermin noch der "Goldstandard"?

Wenn man mit Therapeuten spricht und Berufsverbänden, zeigt sich, dass es in dieser Debatte um viel mehr geht als um einzelne Sprechstunden. Es geht um Grundsätzliches: Wie digital soll das Gesundheitssystem werden? Ist der persönliche Arzttermin immer noch der "Goldstandard"? Oder muss die ärztliche Behandlung mit der Zeit gehen - sich dem flexibleren, digitalen Leben der Patienten anpassen?

Für Hartmann-Strauss ist klar, dass mehr Digitalisierung möglich und auch nötig wäre: "In anderen Ländern wie den USA, Kanada oder Australien ist die Psychotherapie per Video längst etabliert", sagt sie, "ich verstehe nicht, warum Deutschland so zögerlich ist." Die Kassenärztliche Bundesvereinigung liefert dafür eine pragmatische Begründung: Die unbegrenzten Videosprechstunden seien eine Sonderregelung in der Pandemie gewesen, und diese sei nun eben vorbei.

Ganz ungehört scheint die Kritik der Therapeuten aber doch nicht zu bleiben: "Perspektivisch wolle man eine neue Regelung herbeiführen, um eine flexiblere Anwendung der Videosprechstunden zu ermöglichen", teilt ein Sprecher der KBV auf Anfrage mit. Bis Ende Mai werde man darüber mit den Krankenkassen beraten.

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