Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
Die SPD ist eine wunderbar alte Partei. Ihre Wurzeln reichen weit zurück ins Kaiserreich, ihre Geschichte ist gute deutsche Geschichte. Unter den Leuten, die diese Partei geprägt und geführt haben, sind Vorbilder, sind Helden und Heldinnen. Der Name Sozialdemokratie steht für die Tugenden dieses Landes und seine Erfolge. Das Grundgesetz beschreibt Deutschland als soziale Demokratie - und alle anderen demokratischen Parteien, also auch die politischen Konkurrenten der SPD, orientieren sich an Wegweisern, die diese Partei im Lauf ihrer Geschichte aufgestellt und immer wieder erneuert hat.
Man mag, man muss diesen rühmenden Vorspruch machen, bevor man darüber sinniert, ob die Partei gerade dabei ist, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Das dafür erforderliche Loch wäre freilich nicht sehr groß, weil die Partei weit weg ist von alter Größe. Sie ist klein geworden, sie ist geschrumpft. 16 Prozent sind wirklich nicht viel - für je zehn Jahre Geschichte nur noch ein Prozent. Aber: Parteien werden ja nicht für ihre Geschichte, sondern für ihre Gegenwart gewählt und für das, was sich die Wählerinnen und Wähler von ihr für die Zukunft erhoffen. Das ist derzeit nicht so viel, jedenfalls nicht auf Bundesebene.
Die Metapher vom Schaufeln des eigenen Grabes kommt einem in den Sinn, wenn man beobachtet, wie unsouverän und befremdlich Debatten in dieser Partei geführt werden; wenn sie denn überhaupt einmal geführt werden - wie dies soeben im Hinblick auf die sogenannte linke Identitätspolitik geschah. Die Parteiführung in Gestalt der Vorsitzenden Saskia Esken und des Vizevorsitzenden Kevin Kühnert wollte links sein, benahm sich aber linkisch; sie verhielt sich so täppisch, dass allüberall kolportiert wurde, sie schäme sich wegen und über Wolfgang Thierse.
Unbequem, verletzlich, beharrlich
In Wahrheit war es etwas anders. Esken und Kühnert haben an Personen aus der queeren Community eine Mail geschrieben, in der es um einen SPD-Online-Talk unter Beteiligung der FAZ-Redakteurin Sandra Kegel ging. Kegel hatte der LGBTI-Community wegen eines kritischen Kommentars das Kraut ausgeschüttet, worauf diese Community vergeblich deren Ausladung forderte. Der Online-Talk nahm dann einen turbulenten Verlauf. Der Furor von "Wut und Schmerz" war exorbitant: Der Lesben- und Schwulenverband teilte in einer Presseerklärung aus: "SPD versagt bei Parteinahme für queere Menschen" und stellte fest, dass die Verteidigung von queeren Menschen "offensichtlich nicht zu den Grundwerten der SPD" gehörten. Die Veranstalter baten um Entschuldigung "für die im Gespräch entstandenen Verletzungen".
Daraufhin schrieben Esken und Kühnert, um die wallenden Gefühle zu glätten, die genannte Mail: "Kommt mit uns ins Gespräch und gebt uns die Chance, Euch im direkten Austausch zu versichern, dass Queerness und überhaupt gesellschaftliche Vielfalt in der SPD so viel empathischer und solidarischer betrachtet werden, als es in den vergangenen Tagen den Eindruck gemacht hat. ... Die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit einer Online-Debatte auf Einladung des SPD-Kulturforums und der SPD-Grundwertekommission, die fehlende Zurückweisung von Grenzüberschreitungen und die mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Gäst*innen aus Euren Reihen, manche Rechtfertigung im Nachgang - all das beschämt uns zutiefst. Wir ahnen und wissen aus persönlichen Gesprächen, wie tief verletzend diese Ereignisse und Erfahrungen für Euch waren. ... Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik, die in den Medien, auf Plattformen und parteiintern getroffen wurden (zeichnen) insbesondere im Lichte der jüngsten Debatte ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD, das Eure Community, Dritte, aber eben auch uns verstört."
Die Schämerei bezog sich also nicht auf Thierse, wie allenthalben kolportiert wurde, sondern auf den SPD-Online-Talk. Auf Thierse bezog sich aber offensichtlich die behauptete Verstörung darüber, dass einzelne Vertreter ein "rückwärtsgewandtes Bild der SPD" zeichnen. Damit war Wolfgang Thierses Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung gemeint, in dem er über den richtigen Dialog mit sexuellen und anderen Minderheiten sinniert und "linke Identitätspolitik" kritisiert hatte. Es mache sich, so schrieb Thierse, eine Haltung breit, Diskussionen zu verweigern. Und mit Blick unter anderem auf die Debatte um die Umbenennung der Mohrenstraße in Berlin, deren Name als rassistisch kritisiert wird, schrieb Thierse: "Die Reinigung und Liquidation von Geschichte war bisher Sache von Diktatoren, autoritären Regimen, religiös-weltanschaulichen Fanatikern." Thierse hatte des weiteren bemängelt, Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender würden aggressiver, weil immer öfter die Identität der Gegner und nicht das Argument Ausschlag gebe. Er forderte, die verteilungspolitischen Gerechtigkeitsthemen nicht aus dem Blick zu verlieren.