Streiks und Großkundgebungen:Portugal versinkt in Arbeitskämpfen

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Lehrkräfte warten im Februar nahe dem Stadttheater in Matosinhos auf Premier António Costa, der dort an einer Debatte über die Wohnungslage teilnehmen wird. (Foto: Rita Franca/Imago)

Wohnungsnot, Lehrermangel, ein überlastetes Gesundheitssystem treiben die Menschen auf die Straße. Die sozialen Probleme geraten immer mehr aus den Fugen - ausgerechnet unter einer sozialistischen Regierung.

Von Patrick Illinger

"Respeito", Respekt, steht dieser Tage auf Tausenden Plakaten, die Streikende in ganz Portugal schwenken. Eisenbahner, Verwaltungsangestellte, Pflegekräfte, Mediziner und vor allem Lehrerinnen und Lehrer überziehen das Land mit Streikwellen. Viel von dem Respeito, den sie für sich einfordern, haben sie für Premierminister António Costa und sein Kabinett nicht mehr übrig.

Ausgerechnet unter einer sozialistischen Regierung geraten die sozialen Probleme Portugals aus den Fugen. Ein Paradox, das den Zorn der Arbeitnehmerschaft zusätzlich zu befeuern scheint.

309 Streikbekanntmachungen gab es alleine im Januar, mehr als dreimal so viele wie ein Jahr zuvor. Am Freitag streikte die öffentliche Verwaltung im gesamten Land. Am Samstag hat der große Gewerkschaftsbund CGTP Zehntausende Menschen zu Großkundgebungen auf die Straßen von Lissabon gerufen. "Wir wollen Frieden, Brot und Wohnung", forderten die Demonstranten.

Nicht mal mit einem Lehrergehalt lässt sich das Leben in den Ballungszentren finanzieren

Die vielleicht wütendste und zurzeit nahezu dauerprotestierende Berufsgruppe sind die Lehrerinnen und Lehrer des Landes. Deren Situation hatte auch ohne Pandemie und Inflationsschock das Niveau des Erträglichen unterschritten.

Mit durchschnittlich 1200 Euro verdienen Lehrer zwar mehr als die meisten Arbeitnehmer in Portugal, aber in den Ballungszentren lässt sich damit kein Leben mehr finanzieren. Hinzu kommt, dass Dienstjahre nicht angerechnet, Beförderungen verschleppt und viele Lehrer ständig an andere Orte im Land versetzt werden.

"Sie kämpften und kämpfen für Bildung, insbesondere für das Recht auf Bildung derjenigen, die über weniger Einkommen verfügen", erkennt nicht etwa ein linksgerichtetes Gewerkschaftsblatt an, sondern die rechtsliberale Zeitung Observador. Für den 25. April hat die neu formierte Lehrervertretung Stop zur größten Demonstration aufgerufen, "die dieses Land in diesem Jahrhundert hatte".

"Entweder gewinnen die Lehrer oder das Land verliert."

Deutliche Worte findet der Pädagogik-Professor Santana Castilho: "Costa führt eine Regierung an, die Lehrende zu kleinen Angestellten ohne gesellschaftliche Relevanz verkümmern lässt. Jetzt heißt es: Entweder gewinnen die Lehrer oder das Land verliert." Mit "Intensivpatienten, denen ständig Placebos verschrieben werden", vergleicht der Bildungsexperte Marco Bento aus Coimbra in der Zeitung Publico die Situation der Lehrenden.

Die Krankenhaus-Analogie passt zu einer weiteren Berufsgruppe, die sich zum Arbeitskampf entschlossen hat: Am 8. und 9. März rief der Ärzteverband FNAM zum Streik auf. Tausende Operationen wurden verschoben. Mit rund 1700 Euro netto verdienen Fachärzte im Niedriglohnland Portugal zwar überdurchschnittlich, aber massenweise unbezahlte Überstunden und düstere Karriereaussichten treiben auch die Mediziner in Rage.

Eine "sehr tiefe Unzufriedenheit und große Empörung" beobachtet Isabel Camarinha, die Generalsekretärin des Gewerkschaftsbunds CGTP, nicht nur in einzelnen Berufsgruppen, sondern unter Arbeitern und der allgemeinen Bevölkerung insgesamt. Die zuletzt ausgehandelten Lohnerhöhungen von immerhin gut fünf Prozent seien nicht geeignet, die inflationsbedingten Einbußen abzufedern.

2022 war der für Portugal so wichtige Tourismus zwar wieder aus dem Pandemiekoma erwacht und bescherte dem Land ein gut sechsprozentiges Wachstum. Nun aber treffen die Folgen des Ukraine-Kriegs samt Inflation eine Bevölkerung, die zu großen Teilen ihre Alltagsfinanzen genau kalkulieren muss.

Liberalisierte Märkte waren Costa wichtiger als die Lebensumstände vieler Berufsgruppen

In einem OECD-Report vom vergangenen November wurde Portugal für 2023 und 2024 lediglich ein Wirtschaftswachstum im Ein-Prozent-Bereich vorhergesagt. Damit ist auch dieser, für die Regierung Costa in vergangenen Jahren erfreuliche Gradmesser im orange-roten Bereich angekommen. Da können auch die Verdienste der Sozialisten, etwa die beachtenswerte Umstellung auf regenerative Energien, die Arbeitnehmerschaft nicht mehr besänftigen.

Premier António Costa, dessen "Partido Socialista" seit dem vergangenen Jahr sogar mit absoluter Mehrheit im Parlament regiert, war seit seiner Machtübernahme im Jahr 2015 mehr auf Wirtschaftswachstum und Haushaltsstabilität bedacht - als auf Lösungen für Probleme wie Wohnungsnot, Lehrermangel und das überlastete Gesundheitssystem.

Liberalisierte Märkte - das war in Zeiten der Finanzkrise, als die Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission zeitweise das Ruder übernommen hatte, eine Forderung an Portugals Regierung. Eine Folge waren die 2012 eingeführten "Goldenen Visa". Diese gewähren Nicht-EU-Ausländern unbegrenztes Aufenthaltsrecht und damit Zugang zum Schengenraum, wenn sie in Portugal Immobilien im Wert von mindestens 500 000 Euro erwerben.

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Der Anreiz brachte Milliarden Euro ins Land. Aber die Entwurzelung angestammter Bevölkerungsteile war die Folge. Reiche Chinesen, Brasilianer, Südafrikaner und Russen kauften Immobilien. Historische Häuserblocks wurden luxussaniert. Die Altstadt von Lissabon, noch vor nicht allzu langer Zeit der Lebensraum einfacher und mittelständischer Familien, hat sich in einen Dschungel aus Airbnb-Wohnungen verwandelt. Der Geldfluss schuf aber kaum Arbeitsplätze.

Erst jetzt, mehr als sieben Jahre nach seinem Amtsantritt, will Premier Costa das fragwürdige Lockmittel abschaffen. Ökonomische Eckdaten waren dem Sozialisten lange Zeit wichtiger, als die realen Lebensumstände vieler Berufsgruppen seines Landes.

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