Giftanschlag auf Nawalny:Nato-Generalsekretär: "Völlige Respektlosigkeit"

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Nato-Generalsekretär Stoltenberg sprach von einem "schrecklichen Mordversuch". (Foto: Getty Images)

Stoltenberg verlangt von Russland Aufklärung im Fall Nawalny. Im Gegensatz zur EU kann die Nato allerdings keine Sanktionen gegen Russland verhängen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Nach der Europäischen Union verlangt auch die Nato von Russland, unabhängigen Ermittlungen zur Vergiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny zuzustimmen, der weiter in der Berliner Charité behandelt wird. "Die russische Regierung muss im Rahmen einer unparteiischen internationalen Untersuchung uneingeschränkt mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zusammenarbeiten", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag nach einer kurzfristig angesetzten Botschaftersitzung. Alle 30 Nato-Mitglieder verurteilten die Attacke auf den Oppositionellen.

Am Freitag äußerten sich auch die USA "tief besorgt" wegen Nawalnys Vergiftung mit einem chemischen Kampfstoff.

Stoltenberg beklagte den "schrecklichen Mordversuch" und benutzte damit eine Formulierung, die auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in einer Erklärung im Namen der 27 Mitgliedstaaten verwendet hatte. Die EU behalte sich das Recht vor, "angemessene Maßnahmen" zu ergreifen, einschließlich Sanktionen.

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Bisher hatte Russland nach eigenen Angaben keine Beweise für eine Straftat und damit auch keinen Anlass für Ermittlungen gesehen. Die Nato fordert eine internationale Untersuchung des Falls Nawalny.

Anders als die EU kann die Nato keine solchen Strafmaßnahmen verhängen; konkrete Maßnahmen wurden am Freitag nicht beschlossen. Stoltenberg forderte, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gebracht werden müssten. Er sprach von "zweifelsfreien Beweisen", dass Nawalny mit einem militärischen Nervengift vom Typ Nowitschok vergiftet worden sei. Zu diesem Schluss war ein Speziallabor der Bundeswehr gekommen; Deutschland hatte über die Ergebnisse informiert.

Die Allianz hatte nach der Vergiftung des Doppelagenten Sergej Skripal mit Nowitschok im britischen Salisbury 2018 die Höchstzahl der in der Nato-Zentrale akkreditierten russischen Diplomaten von 30 auf 20 reduziert. Auf die Frage, wieso die Nato Stellung zu einem Vorfall außerhalb des Bündnisgebiets beziehe, sagte Stoltenberg, dass der Einsatz einer Chemiewaffe einen "inakzeptablen Bruch internationaler Normen und Regeln" darstelle und "eine völlige Respektlosigkeit gegenüber dem menschlichen Leben" offenbare. Zudem würden durch solche Attacken auf Oppositionelle Grundwerte der Nato wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheiten verletzt.

Hunderte EU-Abgeordnete sehen Russland nicht bereit für Aufklärung

Am Donnersta hatte Borrell für die EU-27 betont: "Straffreiheit darf und wird nicht akzeptiert werden." Moskau müsse das Verbrechen "in aller Transparenz aufklären", um Strafmaßnahmen zu verhindern. Dazu gehören Einreiseverbote in die EU oder Kontensperrungen; solche Sanktionen finalisieren Diplomaten gerade wegen der Wahlfälschung und brutalen Gewalt gegen Demonstranten in Belarus. EU-Diplomaten zeigten sich zufrieden von der schnellen Einigung auf die klare Wortwahl im Fall Nawalny, doch zeichne sich keine Neuausrichtung der Russland-Politik einzelner Länder ab. So dringen Balten und Polen auf harte Sanktionen, die moskaufreundlichen Ungarn und Österreich wollen abwarten. Auch gibt es kein Anzeichen, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Charmeoffensive gegenüber Wladimir Putin aufgeben will.

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Klare Forderungen kommen auch aus dem Europaparlament. Manfred Weber, Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion, wiederholte im Spiegel seine bekannte Ablehnung der geplanten Nord-Stream-2-Pipeline zwischen Russland und Deutschland, die seit Jahren in Europa Frust über Berlin verursache. "Natürlich gehört zu möglichen Sanktionen die härteste: ein partieller Einkaufsstopp bei Rohstoffen", sagte der Vizechef der CSU.

Trotz Kritik an Moskau gehört Weber nicht zu den mehr als 100 EU-Abgeordneten, die sich in einem offenen Brief "extrem skeptisch" zeigen, dass die russischen Behörden "fit und bereit" seien, die wahren Hintergründe des Verbrechens aufzuklären. Daher fordern sie in einem offenen Brief vom EU-Chefdiplomaten Borrell und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, sich dafür einzusetzen, dass der Anschlag auf Nawalny auch im Rahmen der UN und des Europarats aufgeklärt wird. Unterstützt werden sollte diese "internationale Untersuchung" von der OPCW - ein Angriff von russischen Hackern auf deren Zentrale in Den Haag war 2018 vereitelt worden.

Organisator des Briefs ist Sergej Lagodinsky, der russlandpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion. Gefordert wird auch, das EU-Sanktionsregime für Menschenrechtsverletzungen einzuführen, auf das sich die Außenminister Ende 2019 einigten. Das Schreiben, das neben vielen Grünen vor allem Abgeordnete aus Mittel- und Osteuropa unterschrieben endet mit einem Appell: "Wir können nicht tatenlos zuschauen, während die Opposition in Russland systematisch vergiftet wird." Ob glaubwürdige Taten folgen, zeigen die nächsten Tage.

© SZ vom 05.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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