Konsequenzen nach Nawalny-Vergiftung:Berlin sucht den Preis der Empörung

Konsequenzen nach Nawalny-Vergiftung: Putin-Kritiker im Visier: Die Tochter des Doppelagenten Sergej Skripal, Julia Skripal, und Alexej Nawalny wurden mit Nowitschok vergiftet, die Journalistin Anna Politkowskaja wurde erschossen, Alexander Litwinenko starb, nachdem ihm Polonium verabreicht worden war.

Putin-Kritiker im Visier: Die Tochter des Doppelagenten Sergej Skripal, Julia Skripal, und Alexej Nawalny wurden mit Nowitschok vergiftet, die Journalistin Anna Politkowskaja wurde erschossen, Alexander Litwinenko starb, nachdem ihm Polonium verabreicht worden war.

(Foto: imago, dpa (2), AP)

Die Entrüstung ist groß über das Giftattentat auf den populären russischen Oppositionellen. Doch wie reagieren? Die Bundesregierung ist nicht bereit, die umstrittene Gas-Pipeline Nord Stream 2 aufzugeben - noch nicht.

Von Daniel Brössler

Am Morgen danach ist es Markus Söder, der auf einer Berliner Dachterrasse den Anfang macht. "Das eine hat mit dem anderen aus unserer Sicht zunächst mal nichts zu tun", sagt der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef. Das "eine" ist die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe, über die es, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch die Weltöffentlichkeit informierte, keinen Zweifel mehr geben kann. "Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens. Er sollte zum Schweigen gebracht werden", hatte Merkel gesagt. Das "andere" ist Nord Stream 2, die fast - aber eben nur fast - fertige Gas-Pipeline zwischen Deutschland und Russland. Es werde nun schwieriger, räumt Söder dann doch ein, das Projekt "in einem positiven Licht" zu sehen.

Das ist, wie im Laufe des Tages immer klarer werden wird, eine ziemliche Untertreibung. Es stellten "sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss", hatte Merkel gesagt. Aber eine Frage gibt es, die eben doch in Berlin beantwortet werden muss - die nach Nord Stream 2. Östliche EU-Länder kritisieren das Projekt schon lange, die USA haben Sanktionen dagegen verhängt und weitere angedroht. Sobald Deutschland im Fall Nawalny nach Konsequenzen ruft, wird es erklären müssen, warum es nicht selbst bei der Pipeline anfängt. Was denn Russland tun müsse, um Nord Stream 2 zu retten? Das soll Merkel am Donnerstag bei einer Pressekonferenz beantworten. Sie habe, sagt Merkel schmallippig, ihren Ausführungen "nichts hinzuzufügen".

Doch da ist die Debatte um die Röhre längst nicht mehr zu stoppen. Selbst Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), ein erklärter Gegner von Russland-Sanktionen, äußert Zweifel, ob Nord Stream 2 fertiggestellt werden kann, wenn sich herausstelle, dass "wir es mit einem verbrecherischen System zu tun haben". Norbert Röttgen, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag und einer der CDU-Bewerber um eine Kanzlerkandidatur, setzt in Interviews und auf Twitter den Ton. "Die EU muss weg von diplomatischen Empörungsritualen hin zu einer gemeinsamen operativen Außenpolitik gegenüber Russland, die Putin auch trifft. Nord Stream 2 aufzuhalten, wäre eine solche Maßnahme", sagt er. Das Projekt fortzuführen, sei doch, erklärt Röttgen im Deutschlandfunk, "die ultimative und maximale Bestätigung für Wladimir Putin", seine Politik fortzusetzen, weil so erneut bewiesen würde, "dass von den Europäern nichts zu erwarten ist".

Röttgen gehörte schon vor der Vergiftung Nawalnys zu den scharfen Kritikern des Pipeline-Projekts in den Regierungsfraktionen. Aus seiner Sicht widerspricht die 1230 Kilometer lange Röhre "allem, was wir energiepolitisch und europapolitisch festgelegt haben in Europa". Benötigt werde das zusätzliche Gas nicht, argumentiert er, riskiert werde aber eine Abhängigkeit von Russland. In den Regierungsfraktionen gehört Röttgen damit aber zu einer Minderheit.

Seit Jahren verwendet die Bundesregierung viel Mühe darauf, das Projekt gegen größte Widerstände durchzusetzen. Versuche, den Bau mithilfe der EU-Gesetzgebung zu stoppen, wehrte sie erfolgreich ab. Kanzlerin Merkel argumentierte, es handele sich um ein wirtschaftliches Projekt, setzte sich allerdings dafür ein, dass Russland sich zur weiteren Nutzung der durch die Ukraine führenden Pipeline verpflichtet. Mit Empörung reagierte die Bundesregierung auf die Sanktionen und Sanktionsdrohungen aus den USA, die die Fertigstellung des Projekts bedrohen, weil beteiligte westliche Firmen um ihr US-Geschäft fürchten müssen. Würde Deutschland Nord Stream 2 nun doch noch von sich aus stoppen, US-Präsident Donald Trump und der US-Kongress, der die Sanktionen vorantreibt, dürften sich bestätigt fühlen.

Das wiederum wäre nicht im Sinne Merkels und ihrer Minister. Bei einer Videoschaltkonferenz mit dem Handelsausschuss des Europäischen Parlaments verteidigt Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) am Donnerstag das Projekt und wendet sich noch einmal gegen die Sanktionen aus Washington, die kein Beitrag seien "zu einem freien und offenen Welthandel" und nach Auffassung Deutschlands auch "nicht rechtmäßig". Den Namen Nawalny erwähnt er gar nicht. Auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) verteidigt die Fertigstellung der Röhre, die in ihrem Bundesland, in Sassnitz, auf Land treffen soll. "Wir brauchen die Ostseepipeline für die künftige Energieversorgung in Deutschland", mahnt sie. Der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans warnt vor einem "Wettbewerb der Sanktionsideen".

Optionen der EU: Einreiseverbote und Kontensperrungen

Tatsächlich sucht die Bundesregierung jetzt erst einmal den europäischen Schulterschluss. Zwar liegt Nawalny in der Berliner Charité im künstlichen Koma, der Konflikt soll aber nicht als rein deutsch-russischer erscheinen. Eingeschaltet werden der Europarat, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) - und die Europäische Union. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell veröffentlichte am Donnerstagabend im Namen der Mitgliedsstaaten eine Erklärung, in der es heißt: "Straffreiheit darf und wird nicht akzeptiert werden." Moskau müsse das Verbrechen "in aller Transparenz aufklären und die Verantwortlichen vor Gericht bringen." Die Europäische Union behalte sich das Recht vor, "angemessene Maßnahmen" zu ergreifen, einschließlich Sanktionen. Die EU hat zwar die Möglichkeit, Einreiseverbote und Kontensperrungen auszusprechen, wie das nun wegen der Wahlfälschung und Gewalt gegen Demonstranten in Belarus geschehen soll. Solche Sanktionen aber können nicht wahllos verhängt werden und müssen einer Überprüfung vor Gericht standhalten - also nachweisbar jene treffen, die Verantwortung tragen für ein Verbrechen. Als praktisch ausgeschlossen kann gelten, dass Russland solche Verantwortlichen präsentiert. Schließlich gibt es ja, wiewohl Nawalny Opfer eines militärischen Nervengifts geworden ist, aus Sicht von Kremlsprecher Dmitrij Peskow "keinen Grund, dem russischen Staat etwas vorzuwerfen".

Diese Lage dürfte sich nicht so schnell ändern. Auf der einen Seite Russland, das alle Verantwortung von sich weist, auf der anderen die Europäer, die beteuern, das nicht hinnehmen zu wollen. "Wir dürfen nichts von vorneherein ausschließen", sagt dazu der Vizefraktionschef der CDU/CSU im Bundestag, Johann Wadephul. Damit meint er auch Nord Stream 2. Nun gelte es aber erst einmal, den Druck aufrechtzuerhalten und auf Antworten zu pochen.

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FILE PHOTO: Workers are seen through a pipe at the construction site of the Nord Stream 2 gas pipeline in Russia

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Die Bundesregierung hat sich im Fall Nawalny in eine widersprüchliche Lage gebracht. Wenn Deutschland gemeinsam mit der EU auf den Giftanschlag reagieren will, muss es die geplante Pipeline preisgeben.

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