Polen:Unter Protest ins neue Schuljahr

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Auch Schüler protestieren: Hier im September 2022 gegen den Geschichtsunterricht von Bildungsminister Czarnek. (Foto: IMAGO/NurPhoto)

Polnische Lehrer empört nicht nur ihr schlechtes Gehalt, sie halten auch Ausbildung und Lehrplan für überholt. Der Bildungsminister legt Wert auf "die patriotische Erziehung und die Förderung einheimischer Traditionen".

Von Viktoria Großmann, Warschau

In weißen Hemden oder Blusen, im dunkelblauen Anzug, im Faltenrock mit weißen Strümpfen gehen die Schülerinnen und Schüler am Montag in Warschau nach zehn Wochen Sommerferien wieder in den Unterricht. Es sieht aus, als gäbe es etwas zu feiern. Nicht nur für die Kleinen, die an der Hand ihrer Eltern zum allerersten Schultag gehen, auch für die Älteren.

Doch vielen Lehrern ist nicht nach Feiern. Mit Trillerpfeifen und allem, was sonst Lärm macht, mit Plakaten und Fahnen versammelten sich mehr als 1000 Lehrer aus dem ganzen Land am Freitag vor dem Ministerium von Bildungsminister Przemysław Czarnek in Warschau. Auch in früheren Jahren gab es schon solche Proteste vor Schulbeginn, offensichtlich hat sich dadurch nichts verbessert. Eher noch verschlimmert, auch, weil die bis zu zweistelligen Inflationsraten die Gehälter praktisch sinken lassen.

Nach 19 Jahren Unterricht ein Einkommen wie eine Reinigungskraft

Eine Gruppe Lehrerinnen ist von einer Berufsschule in Krasnystaw im Südosten Polens angereist. "Ich bin seit 19 Jahren dabei", sagt eine Wirtschaftslehrerin, "und ich verdiene gerade so viel wie unsere Reinigungskraft." Die Mechatronik-Lehrerin sagt, sie werde sich einen Zweitjob suchen müssen, "aber dann leidet natürlich die Unterrichtsvorbereitung". Ihre Kollegin unterrichtet Friseurschüler, sie hat fünf Kinder, ihr Mann arbeitet auf dem Bau in Norwegen, sie sehe ihn nur selten, erzählt sie. "Es geht ums Geld, aber es geht auch Wertschätzung, um Anerkennung unserer Arbeit."

Von der Bühne ruft die Rednerin: "Herz ist unsere Kompetenz." Die drei Lehrerinnen pusten in ihre Trillerpfeifen und drängen Hand in Hand weiter nach vorn zur Rednerbühne, wo auch Politiker der Opposition sprechen. Unter der Regierung von Donald Tusk war es besser, hatte die junge, blonde Mechatronik-Lehrerin gesagt.

Bildungsminister Przemysław Czarnek setzt auf die Vermittlung christlicher Werte. (Foto: Jacek Dominski/imago images/Eastnews)

Tomasz, der seit 27 Jahren Informatik im Karpatenort Rymanów unterrichtet, ist es egal, welcher Partei der Bildungsminister angehört. Hauptsache, es ist nicht mehr Przemysław Czarnek. "Wir brauchen einfach einen guten und verständnisvollen Bildungsminister." Und zwar sowohl mit Verständnis für das, was die Kinder, als auch das, was die Lehrer brauchen. Eine Schulpsychologin aus Grębów im Süden erzählt vom eklatanten Anstieg psychischer Probleme unter Jugendlichen, viele ritzten sich die Haut, sagt sie. Seit der Pandemie hätten solche Fälle stark zugenommen.

Es fehlt jetzt schon an Lehrern und die Studienplätze bleiben leer

Bei 3690 Złoty brutto liegt das Lehrereinstiegsgehalt, etwa so viel wie der Mindestlohn, umgerechnet 825 Euro. Zum Vergleich: Wer sich dafür entscheidet, in die Armee einzutreten, bekommt von Anfang an 4960 Złoty, also etwa 1110 Euro. Für die Soldatenlaufbahn wird auffällig viel auf großen Plakaten geworben, für den Lehrerberuf nicht.

Dabei fehlen Lehrer, und immer weniger möchten den Beruf ergreifen, Studienplätze bleiben unbesetzt. Aus Sicht der Lehrerverbände liegt das am Geld. Aber nicht nur. "Wir wollen eine moderne Ausbildung", wird am Freitag auch von der Rednerbühne gerufen. Die Lehrergewerkschaft ZNP fordert einen Lehrplan, der "dem 21. Jahrhundert würdig ist, nicht dem 19. Jahrhundert".

Minister Przemysław Czarnek erklärte in einem Brief an Lehrer, Schüler und Eltern zum Schuljahresbeginn, man wolle sich "auf die patriotische Erziehung und die Förderung einheimischer Traditionen" konzentrieren. Aber auch auf "moderne Technologien" und die Vorbereitung der Schüler auf den Arbeitsmarkt. Alle Viertklässler sollen Laptops erhalten, die Lehrer erhalten Gutscheine, um technische Ausrüstung zu erwerben. Aus Sicht von Czarnek ist das bereits die "Schule der Zukunft." Zudem sei das Gehalt der Lehrer seit Beginn seiner Amtszeit auf Rekordniveau gestiegen, nämlich um mehr als zwölf Prozent. Doch das gleicht die Inflationsrate nicht aus. Die Lehrergewerkschaft fordert 20 Prozent mehr Gehalt.

Der Minister will Schüler vor dem Sexualkundeunterricht schützen

Nicht auf dem Niveau des 21. Jahrhunderts sind aus Sicht etwa der internationalen Organisation Human Rights Watch Czarneks Ansichten zum Sexualkundeunterricht. Die gesundheitliche und sexuelle Aufklärung an den polnischen Schulen liegt stark in den Händen privater Vereine und Organisationen - doch Czarnek möchte das gern beenden. Seine sogenannte Lex Czarnek sieht unter dem Slogan "Schützen wir die Kinder" vor, Themen zu verbieten, welche die "Sexualisierung von Kindern fördern".

Zweimal hat Präsident Andrzej Duda bereits ein Veto gegen das Gesetz eingelegt, die aktuelle Fassung aber ging im August durch den Sejm und liegt derzeit dem Senat vor - dort hat die Opposition Mehrheit. Die letzte Entscheidung aber liegt bei Sejm und Präsident.

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Heftige Kritik gab es auch am neu eingeführten Schulfach "Geschichte und Gegenwart" und den zugehörigen Lehrbüchern. Darin werden etwa homosexuelle Paare, Patchwork-Familien und künstliche Befruchtung kritisiert. Czarnek erklärte damals auf die Vorwürfe, es gebe keine Pflicht, das Schulbuch zu benutzen. Der vierte Band des Geschichtsbuchs, das die deutsch-polnische Historikerkommission erstellt hat, ist in Polen bislang nicht zugelassen.

Für Czarnek ist die katholische Religion die Grundlage von Erziehung und Bildung. Eine "Rückkehr zu den christlichen Wurzeln und eine Rückkehr zu den universellen moralischen und ethischen Prinzipien, die aus dem Christentum stammen", sei in der Schulbildung nötig, sagte er im August in einer Rede.

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