Phänomen Rücktritt:Vom Winde verweht

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Käßmann, Mixa, Koch, Köhler: Deutschland erlebt eine Zeit spektakulärer Demissionen. Auch ein solcher Abgang muss gekonnt sein. Ein Überblick über die Kultur des Rücktritts.

Hans-Jürgen Jakobs

2010 wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Jahr der Rücktritte. Sicher, dazwischen gab es Lena, aber was ist die Popmärchengestalt aus Hannover im Vergleich zur prominenten Serie des Scheiterns, die so viele einschließt: die erste Bischöfin der evangelischen Kirche, einen katholischen Bischof, einen einflussreichen CDU-Ministerpräsidenten und schließlich das Staatsoberhaupt.

Alle scheiterten innerhalb weniger Wochen. Ein Brief nur oder eine kurze Pressekonferenz, das war's. Es wird zurückgetreten in Deutschland.

Früher war es ja so, dass sich gerne einer hinstellte und erklärte: "Ich übernehme die volle Verantwortung" - und dann einfach auf seinem Posten blieb. Es galt das Prinzip Pattex. Einmal erobert, gab man die Macht nicht her. Inzwischen ist der Rücktritt eine Inszenierung. Ein letzter Moment der Selbstbestimmung: Der oder die Unglückliche bestimmt noch einmal den Zeitpunkt, an dem die staunende Öffentlichkeit die Nachricht vom Abschied erfährt, vor allem aber der missgünstige Teil der eigenen Gefolgschaft informiert wird.

Selbst Horst Köhler ist dieser finale Coup geglückt. Was aber bleibt vom kindertrotzigen Gefühl, es allen noch einmal gezeigt zu haben? Den Bettel hinzuwerfen, weil die Schmähungen ("Sparkassenpräsident", "Horst Lübke") unerträglich wurden? Auch ein Rücktritt muss gekonnt sein. Im Übrigen ist der angedrohte Rücktritt meist viel wirkungsvoller, weil dann auf einmal die Widersacher aufgeben. Altkanzler Gerhard Schröder hat so Politik gemacht.

Der zurückgesprungene Bundespräsident, der nach "Horst...wer?" nun als "Horst...weg" ( Bild) eingeordnet wird, hat in die Anthropologie der Rücktreter den völlig unangemessenen Rückzug eingeführt. Die Tat entspricht hierbei weder dem Amt noch der Situation. Der oberste Repräsentant des Staates muss über den kritischen Anmerkungen einer freien Presse stehen - die präsidialen Worte stehen naturgemäß unter besonderer Beobachtung. So ist Köhlers Kurzschlusshandlung auch so etwas wie das öffentliche Bekenntnis, als Rollenfigur genug zu haben. Die Kanzlerin und der Vizekanzler haben, damals noch Opposition, vor sechs Jahren den Wirtschaftsmann Köhler erhoben. Jetzt verlässt ihr Geschöpf "mit sofortiger Wirkung" Schloss Bellevue und weist so auf den fehlenden Rückhalt in den eigenen, schwarz-gelben Reihen. Dieser Rückzug ist Protest, eines Spontis würdig. Aber er passt nicht zu einem Staatsoberhaupt.

Am einfachsten ist der unvermeidliche Rücktritt. Er wird zum Beispiel durch klare Wahlergebnisse ausgelöst. Als in Großbritannien New Labour nach 13 Jahren dem Volk nur noch alt und schwach erschien, gab der Parteiführer Gordon Brown rasch auf. Ein Rücktritt beendet eine Tätigkeit vor der vorgesehenen Frist; freiwillig ist er nie. Solche Demissionen sind in der Wirtschaft gang und gäbe, wobei es sich häufig um einen faktischen Rauswurf handelt, der mit der Formulierung "im besten beiderseitigen Einvernehmen" kaschiert wird. Und die Fußball-Bundesliga beispielsweise meldet von Saison zu Saison mehr Rücktritte, weil die Trainer keine Siege mehr schaffen.

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Bildern. Gesammelt von Sarina Pfauth.

Da in der Politik die Bedeutung von Wahlresultaten aber selten hundertprozentig eindeutig zu interpretieren ist, bleibt der erforderliche Rücktritt oft aus. Es wird taktiert. Die Folge ist das Phänomen des verzögerten Rückritts. Roland Koch beispielsweise hätte mindestens zwei Mal als hessischer Ministerpräsident weichen müssen. Anfang 2008 hatte es der CDU-Politiker, trotz populistischer Kampagne in Fragen der inneren Sicherheit, nicht zur eigenen Mehrheit gebracht; ein Jahr später wiederum langte es zur Wiederwahl nur durch die erstarkte FDP. Und doch: Koch blieb.

Zwar hatte sich der Ministerpräsident innerlich nach dem letzten Wahldebakel zum Rückzug entschlossen, aber er wusste auch: Nur wer ein Amt hat, kann dafür etwas eintauschen. Die Kanzlerin und Parteichefin aber, auf die es hier ankam, bot Koch nur ein EU-Kommissariat und nicht den erhofften Posten des Bundesfinanzministers. Wer sich so abgefrühstückt sieht, tritt lieber zurück. Roland Koch hat dann bei der Benachrichtigung der Presse das Kunststück fertiggebracht, mit entspannten Gesten jedem klarzumachen, dass es sich um einen Akt der Befreiung handelt, auch von Angela Merkel. Präsident Köhler hat dies mit Tränen und Stein-Gesicht ebenfalls verdeutlicht.

Auch Jürgen Rüttgers ist im Grunde reif für die Abschieds-Pressekonferenz in eigener Sache. Der von Sponsoring-Affären gebeutelte Machtstratege hat sich in Nordrhein-Westfalen so sehr ausmanövriert, dass er nach zwölf Prozentpunkten Verlust bei der Wahl als Ministerpräsident nicht zu halten ist. Er muss erst noch von seiner CDU in den Verhandlungen mit der SPD um eine große Koalition geopfert und dann in der Berliner Koalition als Minister recycelt werden. So kann sich Rüttgers den Rücktritt mangels Erfolg sparen.

Heikel und von großer Wirkung in der Öffentlichkeit ist der moralische Rücktritt. Hier liegt im Kern ein größerer Skandal vor, der ein Weitermachen unmöglich macht. Der britische Kriegsminister im Bett mit einem Callgirl, das auch den sowjetischen Marineattaché empfing? Das war 1963, in den Zeiten des Kalten Krieges, in London eine mission impossible. Das konservative Kabinettsmitglied John Profumo trat zurück - vor allem aber, weil seine Aussage im Parlament, an seiner Beziehung mit Christine Keeler sei "nichts irgendwie Ungebührliches" gewesen, nicht zu halten war.

Viele Rücktritte in der Politik erfolgen eher wegen Verlogenheiten im Umgang mit einer Affäre, nicht wegen der Affäre selbst. Und fast immer gibt es noch andere Gründe als die offiziell genannten.

Willy Brandt zum Beispiel, der 1974 über die Guillaume-Affäre gefallene Bundeskanzler: Sein Nachfolger Helmut Schmidt bekannte viele Jahre später, es sei hauptsächlich um die Depressionen des beliebten Politikers gegangen. Brandt übernahm offiziell die Verantwortung für die Spionagetätigkeit seines Referenten Günter Guillaume, der der ostdeutschen Stasi zu Diensten war. An handfesten Beweisen gegen den DDR-Helfer fehlte es, wohl aber hatte das Bundeskriminalamt bei monatelangen Ermittlungen ein Dossier über Brandts Privatleben zusammengetragen. Darin spielten Alkohol und Sex eine große Rolle. "Ich bleibe in der Politik, aber die jetzige Last muss ich loswerden", formulierte Brandt. Es fehlte dem geschwächten Kanzler an Kampfkraft. Sonst hätte er die Sache vielleicht durchgestanden.

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Dem erzwungenen Rücktritt geht eine lange Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit zwischen den Medien und dem Delinquenten voraus. Der journalistische Spürsinn für Scoops bestimmt dabei das Tempo des Niedergangs ebenso wie die Kunst der Gegenpropaganda. Im Fall Watergate des Richard Nixon brauchte es fast anderthalb Jahre, bis die Enthüllungsserie zweier Reporter der Washington Post den US-Präsidenten im August 1974 zum Abdanken veranlassten.

Auch der Augsburger Bischof Walter Mixa wehrte sich nach allen Kräften gegen Darstellungen in der Süddeutschen Zeitung und in anderen Blättern, er habe als Stadtpfarrer von Schrobenhausen Kinder verprügelt - bis er schließlich selbst "die ein oder andere Watschn" einräumen musste. Flankiert wurde die Affäre von Berichten über die mögliche Veruntreuung von Geldern der Waisenhausstiftung. Da Mixa zuvor durch polarisierende politische Äußerungen zur Reizfigur geworden war, fand die Causa genügend überregionale Beachtung. Der Mann war nicht zu halten. Schließlich bot Mixa selbst im April 2010 dem Papst seinen Rücktritt an - einen Schritt, den er offenbar selbst bald bereute. Gerade, als Gerüchte über einen Rücktritt vom Rücktritt auftauchten, machte die katholische Kirche selbst deutlich, dass es Missbrauchsvorwürfe gegen Mixa gebe und informierte den Staatsanwalt. Das war das endgültige Aus, auch wenn sich später die Vorwürfe nicht bestätigten. Der Papst nahm den Rücktritt an.

Mixa passte nicht mehr in die Zeit. Nur hat er das selbst vermutlich nach wie vor nicht eingesehen.

Dass Rücktritt auch Fortschritt sein kann und Größe symbolisiert, beweist Margot Käßmann. Auf einen Kampf mit der Boulevardpresse, die genüsslich über eine Alkoholfahrt der Geistlichen in Hannover berichtete, ließ sie sich erst gar nicht ein. Sie trat als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zurück, mit der Begründung, sie könne "nicht mit der notwendigen Autorität im Amt bleiben". Das fanden die Deutschen vorbildlich. Nach einer Besinnungspause tritt Käßmann inzwischen wieder auf und erhält viel Zuspruch. Die Kirchen und Säle sind voll, wenn sie spricht. Ihr Rücktritt war, wenn man so will, in der gegenwärtigen Rücktrittsserie am erfolgreichsten.

Die SPD bringt die Protestantin sogar als Nachfolgerin für den geflohenen Bundespräsidenten Köhler ins Spiel. Ein origineller Gedanke, weil die Gruppe der prominenten Rücktreter damit in sich selbst Ersatz fände. Auf jeden Fall wäre Margot Käßmann für Schloss Bellevue geeigneter als zum Beispiel Roland Koch, der auch genannt wird. Angela Merkel wird sich die Personalie genau überlegen. Schließlich gilt es zu verhindern, dass am Ende des Berliner Chaos sie selbst zurücktreten muss. Für Lena Meyer-Landrut aber kommt die Aufgabe definitiv zu früh.

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