Hannover:Boris Pistorius' Flucht nach vorn

Lesezeit: 3 min

Hannover (dpa/lni) - Nein, eine Überraschung ist es nicht, dass Boris Pistorius nach Höherem strebt. Aber der Zeitpunkt, zu dem die Kandidatur des niedersächsischen Innenministers für den SPD-Vorsitz bekannt wurde, überrascht trotzdem. Denn seine Ende Juni genannte Bedingung für eine Bewerbung ist nur zum Teil eingetreten. Gefragt nach der Eignung von Juso-Chef Kevin Kühnert und der ehemaligen Bundespräsidenten-Kandidatin Gesine Schwan für die SPD-Spitze, sagt Pistorius damals der "Welt am Sonntag": "Wenn es die einzigen Bewerber wären, würde ich mir überlegen, auch anzutreten."

Direkt aus dem dpa-Newskanal

Hannover (dpa/lni) - Nein, eine Überraschung ist es nicht, dass Boris Pistorius nach Höherem strebt. Aber der Zeitpunkt, zu dem die Kandidatur des niedersächsischen Innenministers für den SPD-Vorsitz bekannt wurde, überrascht trotzdem. Denn seine Ende Juni genannte Bedingung für eine Bewerbung ist nur zum Teil eingetreten. Gefragt nach der Eignung von Juso-Chef Kevin Kühnert und der ehemaligen Bundespräsidenten-Kandidatin Gesine Schwan für die SPD-Spitze, sagt Pistorius damals der „Welt am Sonntag“: „Wenn es die einzigen Bewerber wären, würde ich mir überlegen, auch anzutreten.“

Mittlerweile ist Schwan ins Rennen eingestiegen, an der Seite von Ralf Stegner, allerdings ohne Kühnert und längst nicht als einzige Bewerberin. Doch Pistorius hat eine Tandempartnerin für eine mögliche Doppelspitze gefunden. Gemeinsam mit Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping richtet der 59-Jährige jetzt seinen Blick nach Berlin, aufs Willy-Brandt-Haus. Womöglich auch, weil sein Weg nach oben in Niedersachsen versperrt ist.

In dem norddeutschen Bundesland gehört Pistorius schon seit längerem zum politischen Inventar. Erst sieben Jahre als Oberbürgermeister in Osnabrück, seit sechseinhalb Jahren als Innenminister in Hannover. Mit markigen sicherheitspolitischen Ansagen machte der Jurist sich dabei einen Namen - und verkörpert so einen Typus Politiker, den die SPD seit dem Abgang Otto Schilys nicht mehr hatte, wie der „Spiegel“ schreibt.

So schob Niedersachsen 2017 als bundesweit erstes Land zwei islamistische Terror-Gefährder ins Ausland ab, obwohl sie noch keine Straftat begangen hatten. Und ein neues, umstrittenes Polizeigesetz sieht bis zu 35 Tage Präventivhaft für terroristische Gefährder vor. Allerdings ist Pistorius keineswegs nur der harte Hund der SPD: In der Flüchtlingspolitik etwa warb er wiederholt dafür, aus Seenot gerettete Migranten aufzunehmen, und er weigert sich beharrlich, Abschiebungen nach Afghanistan auszuweiten.

Zuletzt geriet Pistorius jedoch wegen einer Reihe von Sicherheitspannen in seinem Zuständigkeitsbereich unter Beschuss. Eine verlorene Maschinenpistole bei der Polizei in Celle, ein verschwundenes geheimes Dokument beim Landeskriminalamt, eine gestohlene Aktentasche eines LKA-Beamten - Grund genug dafür, dass sich Pistorius lieber auf sein Ministerium denn auf den persönlichen Aufstieg konzentrieren sollte, meint die Opposition. So sagt Niedersachsens FDP-Fraktionschef Stefan Birkner, der Minister solle sich „vorrangig darum kümmern, sein Haus in den Griff zu bekommen“.

Personalpolitisch ist in der niedersächsischen SPD derzeit nicht zu erkennen, wie es für Pistorius absehbar weiter nach oben gehen könnte. Stephan Weil ist als Ministerpräsident beliebt und sitzt fest im Sattel. Als Nummer zwei der Partei gilt vielen Umweltminister Olaf Lies, nicht Pistorius. Erst recht, seit Lies seine Absage an die Energiewirtschaft jüngst medienwirksam als emotionales Bekenntnis zur Sozialdemokratie inszenierte. Seite an Seite mit Weil, wohlgemerkt.

Während Lies die Bewerbung von Pistorius schnell öffentlich unterstützt, will sich der Landeschef zu den Berliner Ambitionen seines Innenministers zunächst nicht äußern. Das gelte zumindest bis zur angekündigten Pressekonferenz von Pistorius und Köpping am Sonntag in Leipzig, sagt Regierungssprecherin Anke Pörksen am Freitagvormittag. Am Nachmittag äußert sich Weil dann doch - mit Lob für Pistorius.

„Er ist ein versierter, erfahrener und durchsetzungsstarker Politiker und vor allem durch und durch ein Sozialdemokrat“, sagt Weil. Die Bewerbung sei „ein ernstzunehmendes und auch aussichtsreiches Angebot für die Mitglieder der SPD“. Auch von Sigmar Gabriel gibt es Zuspruch. Der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ sagt er: Das ist die erste ernstzunehmende Kandidatur. Das Duo Pistorius/Köpping „würde dazu führen, dass die SPD wirklich eine Erneuerung bekommt“.

Pistorius' Bewerbung um den SPD-Vorsitz lässt sich dennoch auch als eine Flucht nach vorn verstehen. Dabei bedeute ihm die Karriere nur bedingt etwas, sagte der Osnabrücker einmal: „Als ich 38 war, wurde bei meiner Frau erstmals Krebs diagnostiziert. Damals habe ich entschieden, mein berufliches Leben nicht mehr zu planen.“ Mehrere Jahre nach dem Tod seiner Frau ist der Vater von zwei erwachsenen Töchtern heute mit Doris Schröder-Köpf liiert. Die kennt den Weg von Hannover nach Berlin als Ex-Frau von Gerhard Schröder nur zu gut.

Ob Pistorius bald dieselbe Route nehmen kann, ist alles andere als ausgemacht. Denn mit Olaf Scholz hat sich nur wenige Stunden nach ihm ein noch namhafterer Kandidat für die SPD in Stellung gebracht. „Ich bin bereit anzutreten, wenn ihr das wollt“, sagte Scholz nach Informationen des „Spiegel“ der Interimsführung der Partei. Vielleicht, mag sich Pistorius denken, war der Zeitpunkt seiner eigenen Bewerbung nicht nur überraschend. Sondern im Nachhinein auch unglücklich.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: