Das Politische Buch:Viele Fragen, eine klare Antwort

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Die Antagonisten des neuen und des alten Osteuropa: Fotos vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij und Russlands Präsident Wladimir Putin hängen in einem TV-Studio, in dem Frankreichs Präsident Emanuel Macron (Mitte) ein Interview gibt. (Foto: Ludovic Marin/AFP)

Ein schmaler Band will Osteuropa seit 1990 erklären. Das gelingt nur teilweise. Dennoch schließen die vier Autoren eine wichtige Lücke im deutschen Diskurs.

Von Nicolas Freund

250 knappe Seiten über "Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg", und zwar aus gleich vier Perspektiven - literarisch, politisch, historisch und juristisch - und das auch noch von vier Autoren: Wenn das klappt, dann wäre es wahrscheinliche die informativste "Besichtigung einer Epoche" - so der Untertitel des Bandes - die man sich vorstellen kann. Oder die vermessenste, die eben genau mit jenem westlichen Gestus einer "Besichtigung", die sie eigentlich kritisieren möchte, durch Osteuropa flaniert, hier und da haltmacht, sich aber mit nichts richtig auseinandersetzt. So viel sei vorab gesagt: Dieses Buch ist weder das eine noch das andere.

Dass es bei dem geringen Umfang bei einer gewissen Oberflächlichkeit bleiben muss, wenn 30 Jahre und etwa ein Dutzend Länder abgedeckt werden müssen, ist selbstverständlich. Der Überblick zu den wichtigsten kulturellen und philosophischen Akteuren dieser Jahre, der das erste Kapitel bildet, ist dann aber so kursorisch geraten, dass er über das bloße Nennen der Namen kaum hinauskommt und teilweise willkürlich erscheint. Die Vorstellungen dieser zahllosen Gestalten werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Mehr auch hätte man über Autorinnen wie die Literaturnobelpreisträgerin Alexandra Alexijewitsch schreiben können - oder lieber gleich nur zwei, drei Schriftsteller als Beispiele herausgestellt, anstatt eine lexikalische Auswahl zu bieten.

"Kommunizierende Erwartungen"

Eigenartigerweise geht gleich das nächste Kapitel aus Sicht der Politikwissenschaften dann bis zur Grenze der Unverständlichkeit in die (vermeintliche) Tiefe: "Die Bilder von Osteuropa spiegeln westliche Erwartungen an Angleichung im Osten und umgekehrt Erwartungen im Osten, der Westen möge seine Verheißungen einlösen", heißt es zum Beispiel über das Verhältnis zwischen West und Ost. "Die Erwartungen kommunizieren miteinander. Osteuropa ist ein definierendes Anderes der alten EU-Mitglieder, zugleich liefert die Attraktivität der EU in Osteuropa frische Legitimation. Das Objekt, dem die EU ihre Werte und Standards aufschreibt, tritt allerdings als sprödes Subjekt auf, als Autor eigener Geschichte und Gegenwart, nicht nur der Imitation. Da Selbst- und Fremdbilder nicht zur Deckung kommen, bauen sich Spannungen auf." Es lässt sich nur erahnen, was hier gemeint ist. In weiten Teilen wird dieser Abschnitt aber auf dem knappen Raum der Komplexität des Themas zumindest im Ansatz gerecht und spricht wichtige Probleme im Verhältnis von demokratischem Wandel, Marktwirtschaft und neu entdecktem Nationalismus in den Staaten Osteuropas an.

Nachdenken über ein Nischenfach

Im historischen Kapitel kommt das Buch dann endlich für ein paar Seiten ganz auf Kurs, wenn es um die historische Herleitung der deutschen Debatte um den Krieg in der Ukraine geht. Leider verliert sich das Kapitel immer wieder in Auseinandersetzungen mit der Relevanz des eigenen akademischen Nischenfachs der Geschichte Osteuropas, was kein uninteressantes Thema ist, im Rahmen dieses Bandes aber an Themaverfehlung grenzt. Das juristische Kapitel bringt dann mit einer für Bücher dieser Art eher ungewöhnlichen Perspektive etwas Klarheit in, zum Beispiel, die Mechanismen der russischen Propaganda oder die verschiedenen Rechtsverständnisse zwischen Ost und West, wirkt aber nach dem Ende des historischen Teils wie ein Anhang.

Die vier Kapitel dieses Bandes sind wie vier Vektoren, die mit ihrer je eigenen Zielrichtung kreuz und quer durch Länder und Jahrzehnte schießen, dabei manches Interessante streifen, sich manchmal kreuzen, aber weder ein stimmiges Bild dieser "Epoche" ergeben noch ein stringentes Argument.

Ein klarer, neuer Ton

Angelika Nußberger, Martin Aust, Andreas Heinemann-Grüder, Ulrich Schmid: Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg. Besichtigung einer Epoche. Suhrkamp, Berlin 2022. 254 Seiten, 18 Euro. (Foto: Suhrkamp)

Auch als Einführung in Osteuropa ist dieser Band nur bedingt geeignet. Er ist jedoch sehr lesenswert als Primärquelle, nicht einer "Epoche" seit 1989, sondern einer Epochenschwelle, die jetzt gerade stattfindet. Der Band schlägt an mehreren Stellen einen klaren und neuen Ton in der deutschen Debatte um den russischen Angriff auf die Ukraine an, herausgegriffen seien die Seiten im historischen Teil, wenn es dort erst als Gemeinplatz heißt: "Nie wieder Krieg in Europa", und dann aber weiter: "Darüber hinaus muss es in Zukunft heißen, dass im politisch-gesellschaftlichen Gespräch in Deutschland nie wieder das Echo des deutschen Russland-Komplexes die Stimmen der Ukraine und weiterer Länder im östlichen Mitteleuropa übertönen darf."

Das ist ein wichtiger und klarer Einwand, der in diesem Buch immer wieder gemacht wird und der in der Öffentlichkeit bisher viel zu wenig Beachtung fand. Der Band zeigt, dass die Ukraine, so wie auch andere Länder Osteuropas, neben Russland noch nicht als Subjekt im deutschen Diskurs angekommen sind. Feststellung, Herleitung und die deutliche Kritik dieses Missstandes sind ein großes Verdienst dieses Buches.

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