Ostbeauftragte Gleicke:Die unbequeme Stimme des Ostens

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An einer Hauswand in Magdeburg ist der Schriftzug 'Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost' Verwitterungen ausgesetzt. (Symbolbild) (Foto: dpa)

Braucht man heutzutage noch einen Beauftragten für die neuen Bundesländer? Zuletzt haben sich vor allem Ostdeutsche über die zuständige Staatssekretärin Iris Gleicke empört.

Von Antonie Rietzschel, Berlin

Es gibt eine Frage, die Iris Gleicke ständig hört: "Das gibt es noch?" Als Beauftragte der Bundesregierung soll die 53-Jährige die Interessen der neuen Bundesländer vertreten, die Stimme des Ostens sein. Doch auch wenn Gleicke gerne Kostüme in der Signalfarbe rot trägt, wird sie oft übersehen. Kaum einer weiß was eigentlich ihre Aufgabe ist. Die Ministerien sollen mit ihr Maßnahmen absprechen, die direkt Ostdeutschland betreffen. Ein Schulterzucken und der Seufzer verraten, dass das nicht immer passiert. "Klar wäre ich bekannter, säße ich am Kabinettstisch und könnte ein paar Millionen ausgeben", sagt die SPD-Politikerin. Sie hat prominente Vorgänger: Innenminister Thomas de Maizière, die früheren Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee und Manfred Stolpe.

Beim Thema Ostdeutschland hat sich schon immer alles um Geld gedreht: Infrastrukturprojekte, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Förderung des Wirtschaftswachstums. 2019 soll der Solidarpakt II über 156 Milliarden Euro auslaufen und damit die spezielle Förderung der neuen Bundesländer. Die Bedeutung der Ost-Thematik schwindet und damit auch die der Beauftragten der Bundesregierung. Gleicke sitzt zwar im Wirtschaftsministerium, aber nur als Staatssekretärin. Ihre Hauptaufgabe bestand zuletzt darin, salbungsvolle Worte über das Fortschreiten der Deutsche Einheit zu verlieren, so wie ihre Vorgänger es schon getan hatten. Doch dann brach die Ostbeauftragte ein Tabu - und bekam dafür unter anderem Morddrohungen.

Ein Forschungsprojekt hier, ein Gesprächsalon da

Iris Gleicke sitzt in ihrem Büro im alten Berliner Invalidenhaus. Der Raum steckt voller Erinnerungen: Ein Gemälde zeigt die St.-Johannis-Kirche in Gleickes Heimatstadt Schleusingen, im Süden Thüringens. Auf dem Schrank liegt ein Feuerwehrhelm, ein Geschenk der Feuerwehrfrauen in Schmalkalden. Gleicke schaltet das blaue Warnlicht an. Ihr persönlicher Referent lacht. Martin Müller ist auch irgendwie ein Erinnerungsstück. Als Gleicke nach dem Fall der Mauer in den Bundestag einzog, wurde er ihr Mitarbeiter. 27 Jahre ist das her.

Heute ist Müller Teil von Gleickes Stab, insgesamt gibt es 30 Mitarbeiter. Einen eigenen Etat hat die Ostbeauftragte nicht. Sie kann mit Fördergeldern Forschungsprojekte finanzieren. Oder einen Unternehmerdialog. Oder einen Gesprächsalon in der Lausitz zur Kohleförderung. Oder einen Kalender über starke Frauen aus dem Osten. "Ansonsten", sagt Gleicke, "bleibt mir die Macht des Wortes". Das mag nicht nach viel klingen. Gleichzeitig liegt wohl darin der Wert Gleickes. Bis heute tut man sich in Ost und West schwer mit einer differenzierten Sicht auf die Wendezeit. Sie gilt entweder als Erfolgsgeschichte oder als Katastrophe. Gleicke will etwa eine kritische Auseinandersetzung mit der Treuhand. Denn aus ihrer Sicht diente die auch zur Marktbereinigung. Eine Haltung, für die Gleicke vor allem in der Union scharf kritisiert wird.

Ost liegt fast auf EU-Durchschnittsniveau

In einem von Westdeutschen dominierten Polit-Apparat wirbt die Ostbeauftragte um Verständnis. Sie versucht nahezubringen, wie schmerzhaft und emotional die Zeit Anfang der neunziger Jahre für viele Ostdeutsche war. Wie demütigend, wenn Abschlüsse nichts mehr wert waren. Und wie viel Kraft es kostete, sich schließlich selbst neu zu erfinden. Gleicke hat das selbst durchgemacht. Die Thüringerin war Bauingenieurin, hätte aber nach dem Mauerfall erst mal nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten können. Sie ging in die Politik, war stellvertretende Vorsitzende und parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion.

Der jährliche Bericht zum Stand der Deutschen Einheit klammert persönliche Schicksale und Erfolgsgeschichten aus. Im Mittelpunkt stehen die nackten Zahlen, die die wirtschaftliche Entwicklung nachzeichnen. Der Osten liegt heute fast auf EU-Durchschnittsniveau. Doch an die guten Nachrichten reihen sich die immer gleichen Probleme. Denn selbst die wirtschaftlich stärksten Regionen schließen gerade einmal zu den schwachen westdeutschen Regionen auf.

Iris Gleicke, die Ostbeauftragte der Bundesregierung. (Foto: dpa)

2015 lag die Wirtschaftskraft in den neuen Bundesländern immer noch deutlich hinter Westdeutschland. Die Lücke wird sich mittelfristig auch nicht schließen lassen. Zu kleinteilig sind bis heute die Strukturen. Im Osten gibt es vor allem Klein- und mittelständische Unternehmen. Es fehlt an internationalen Investoren und an Fachkräften. Mit 9,2 Prozent liegt die Arbeitslosenquote immer noch deutlich höher als im Westen. Trotz der Probleme fielen die Begleitworte zum Jahresbericht stets hoffnungsfroh aus: "20 Jahre Deutsche Einheit: eine positive Bilanz" (2010), "Der Angleichungsprozess schreitet voran" (2012), "Insgesamt kann eine erfreuliche Bilanz gezogen werden" (2014). Auch Gleicke sagte während ihrer Amtszeit: "Wir haben in 25 Jahren unglaublich viel erreicht. Den Rest schaffen wir auch noch."

Im Herbst 2016 machte sie abrupt Schluss mit diesem Narrativ. Als Ostbeauftragte konnte sie die zunehmende Zahl von Angriffen auf Flüchtlinge und Asylunterkünfte nicht ignorieren. Die Politikerin verurteilte sie nicht nur, sondern verknüpfte sie bei der Vorstellung des Jahresberichts mit der wirtschaftlichen Frage: "Rechtsextremismus stellt eine sehr ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar." Die Macht des Wortes - Gleicke brachte sich zurück in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik. I m Bundestag wurde der Jahresbericht heftig diskutiert. Ein CDU-Abgeordneter betonte, dass wegen der NPD nicht weniger Touristen kämen. Ein weiterer Unions-Politiker sagte über die AfD, deren Kader stammen häufig aus dem Westen.

Eine Studie sorgt für Streit

Auch im Osten selbst kam Gleickes Einschätzung vor allem bei Unionspolitikern schlecht an. "Es wäre außerordentlich hilfreich, wenn sich die Ostbeauftragte künftig stärker als bisher mit den Zukunftsfragen der neuen Bundesländer beschäftigt", so der Kommentar aus der Unions-Fraktion in Sachsen-Anhalt. "Die überwältigende Zahl der Menschen ist im Osten genauso wie im Westen weltoffen, tolerant und demokratisch", sagte Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Dann kam der 3. Oktober 2016. Zum Tag der Deutschen Einheit wurden Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in Dresden von einem wütenden Mob als Volksverräter beschimpft. Danach räumte Tillich erstmals ein, dass sein Bundesland ein Rechtsextremismus-Problem hat.

Ende Mai 2017 präsentierte Gleicke eine von ihr in Auftrag gegebene Studie "Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Osten". Der Titel kann leicht missverstanden werden. Die Forscher beziehen sich nur auf bestimmte Regionen, Städte wie Freital oder Heidenau in Sachsen oder den Erfurter Stadtteil Herrenberg - und nicht ganz Ostdeutschland. Über ein Jahr hinweg befragten die Forscher Aktivisten, Lokal-Politiker, aber auch Anwohner. Es ging nicht darum zu beweisen, dass Ostdeutsche rechtsextremer sind als Westdeutsche. Sondern um mögliche Faktoren, die im Osten besonderes Gewicht haben. Die DDR-Vergangenheit zum Beispiel, die Wende-Zeit. Der Befund der Studie war differenziert. Denn in Freital war man mit rechtsextremen Anfeindungen anders umgegangen als in Heidenau. Die Studie bot auch Lösungsansätze (mehr dazu hier). Die heftigen Reaktionen überraschten Gleicke. Sie bekam Hassmails. Menschen wünschten ihr den Tod, wahlweise durch Zyankali oder per Genickschuss.

Gleicke stigmatisiere Ostdeutsche, obwohl sie deren Fürsprecher sein sollte. Diesen Vorwurf bekam sie auch aus der Politik häufig zu hören. Und: Weil in der Studie mehrere Aktivisten zu Wort kämen, sei die Studie politisch motiviert. Medienvertreter warfen den Machern grobe handwerkliche Fehler vor, Gesprächspartner seien erfunden worden. Die Forscher räumten ein, sie hätten Ansprechpartner anonymisiert, dies jedoch nicht ausreichend gekennzeichnet. Nun gibt es eine überarbeitete Version. Trotzdem stellten mehrere Stadträte in Freital einen Antrag, den Bericht überprüfen zu lassen. Gleicke bleibt dabei: Der handwerkliche Fehler ändere nichts am Ergebnis.

Hat Gleicke Deutschland gespalten? "Nein", sagt die Ostbeauftragte. "Ich betone natürlich auch die positiven Beispiele im Umgang mit Rechtsextremismus. Zum Beispiel in Hoyerswerda oder Leipzig." Sie sei stolz darauf ein Ossi zu sein, sagt Gleicke. "Wir haben dieses Land im positiven Sinne mit verändert." Kinderkrippen etwa gäbe es inzwischen im ganzen Land. Auch im Umgang mit dem demographischen Wandel könne man vom Osten durchaus lernen, so Gleicke. Allerdings sehe sie es nicht als ihre Aufgabe an, alles rosarot zu zeichnen. "Ich bin kein Grüß-August."

Gleicke wünscht sich eine starke Stimme des Ostens

Gleicke kann sich ihre Haltung leisten. Sie wird im Herbst nicht noch mal zur Bundestagswahl antreten, ihre politische Karriere auf Bundesebene ist vorbei. Das Amt wird wohl danach neu besetzt werden, glaubt sie. Bis 2019 werde es auf jeden Fall einen Ostbeauftragten geben. Bis der Solidarpakt II ausläuft. Dann müsse man sehen. Gleicke hatte schon vor ihrem Amtsantritt darum geworben, das Amt neu zu denken. Die Bundesregierung müsse sich allen strukturschwachen Regionen in ganz Deutschland annehmen, damit Populisten keine Chance haben. Vor kurzem war Gleicke zu einer Diskussionsrunde in Duisburg eingeladen. "Dort gibt es dieselben Probleme".

Gleichzeitig wünscht sich die Thüringerin, dass es auch weiterhin eine starke Stimme des Ostens in der Bundesregierung gibt. Damit ist sie zumindest in ihrer Partei nicht allein. Nach dem Weggang von Familienministerin Manuela Schwesig ist mit Bildungsministerin Johanna Wanka nur noch eine Ostdeutsche im Kabinett vertreten. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz möchte die neuen Bundesländer in einer möglichen Regierungskoalition wieder stärker einbinden. Ein Ministerjob soll an einen Ostdeutschen gehen. Im Gespräch ist Carsten Schneider, Spitzenkandidat der SPD in Thüringen. Er könnte dann im Erfolgsfall ab Herbst am Kabinettstisch Platz nehmen. Dort wo Iris Gleicke nie saß.

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