Er hielt keine Rede im Rosengarten oder sprach von seinem Schreibtisch im Oval Office aus zu den Amerikanern. Nein, Barack Obama lud ein Fernsehteam ein, um das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses zu verkünden. "Für mich persönlich ist es wichtig, voranzugehen und zu betonen, dass gleichgeschlechtliche Paare heiraten können sollten", sagte er ABC News.
Obama, der als Kandidat 2008 ein solches Bekenntnis noch abgelehnt hatte, nannte persönliche Begegnungen und Gespräche als Grund für seinen Sinneswandel: Sowohl unter seinen Mitarbeitern als auch im Freundeskreis seiner Töchter habe er gleichgeschlechtliche Paare kennengelernt, die sich liebevoll um ihre Kinder kümmerten. Bisher hatte er sich nur für eingetragene Partnerschaften von Schwulen und Lesben starkgemacht.
In dem Interview, das in voller Länge am Donnerstag in der Sendung Good Morning America ausgestrahlt wird, verwies der US-Präsident auf schwule und lesbische Soldaten, die auf seinen Befehl hin ihr Leben riskierten und denen fundamentale Rechte verwehrt blieben. Vor eineinhalb Jahren hatte der Senat die "Don't ask, don't tell"-Regel abgeschafft und es so bekennenden Homosexuellen ermöglicht, im US-Militär zu dienen.
Romney lehnt juristische Gleichstellung weiter ab
Sechs Monate vor einer aller Wahrscheinlichkeit nach äußerst knappen Präsidentschaftswahl verschärft das "Ja-Wort" des Demokraten Obama den Gegensatz zu seinem voraussichtlichen Herausforderer Mitt Romney weiter. Kurz vor Obamas Interview machte der Republikaner deutlich, dass er eine juristische Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare weiterhin ablehnt. Er unterstütze lediglich "häusliche Partnerschaften", die homosexuellen Paaren etwa das Recht auf Besuchsrechte im Krankenhaus zugestehen.
Romney setzt sich zudem dafür ein, in einem Zusatz der US-Verfassung festzuschreiben, dass die Ehe ein "legaler Bund zwischen Mann und Frau" ist. Bisher ist die Homo-Ehe in sechs Bundesstaaten sowie der Hauptstadt Washington erlaubt. Zudem haben die Parlamente der Bundesstaaten Washington und Maryland eine Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe zwischen Mann und Frau beschlossen - die Bürger müssen diesem Schritt jedoch noch zustimmen.
Die Bewohner North Carolinas hatten dagegen am Vortag einem wie von Romney vorgeschlagenen Zusatz zur Verfassung zugestimmt und sich damit in die Reihe von 29 US-Bundesstaaten eingereiht, welche die Homo-Ehe gesetzlich untersagen.
Es waren genau jene Wähler in eher konservativen swing states wie North Carolina oder Virginia, die Obamas Strategen im Blick hatten, als sie versuchten, eine Festlegung vor dem Wahltag am 6. November zu vermeiden. Der Präsident "entwickle" noch seine Position zu diesem Thema, hieß die Sprachregelung im Weißen Haus. "Es ist ganz eindeutig, dass er sich am liebsten nicht vor den Wahlen festgelegt hätte", analysiert Bill Galston von der Brookings Institution. Laut Galston, der lange Jahre als Berater für die Demokraten gearbeitet hat, wollte es Obama so lange wie möglich vermeiden, dass dieses Thema in die Schlagzeilen gerät.
Dass Obama nun ein weiteres Mal Geschichte geschrieben und sich als erster US-Präsident öffentlich für die Homo-Ehe ausgesprochen hat, hat er auch seinem Stellvertreter zu verdanken. Am Sonntag saß Joe Biden gutgelaunt in der NBC-Talkshow Meet the Press und plauderte über das Wahljahr. Unvermittelt fragte Moderator David Gregory den 69-Jährigen nach seiner Meinung zur Homo-Ehe - und dann nahm das Unglück aus Sicht der Wahlkampfberater seinen Lauf.
Er fühle sich "absolut wohl" bei dem Gedanken, dass homosexuelle Paare "die gleichen Rechte" erhielten wie heterosexuelle Paare ( Bidens Aussage im Video). Entscheidend sei doch nur die Frage, so Biden, wer wen liebe und in Krisenzeiten zusammenhalte. Zwar versicherte der Ex-Senator aus Delaware, der für sein loses Mundwerk bekannt ist, dass in dieser Frage der Präsident die Richtlinien vorgebe, doch die Aussage war in der Welt.
Kaum waren die Kameras abgeschaltet, bemühten sich Bidens Helfer ebenso wie Obamas Berater im Weißen Haus und im Wahlkampf-Hauptquartier in Chicago, das Thema herunterzuspielen. Per Twitter versuchte David Axelrod klarzustellen, dass Bidens Aussage gar nicht über Obamas "Meine Meinung entwickelt sich noch"-Haltung hinausgehe, doch dies nahm dem Chefstrategen niemand ab. Am nächsten Morgen erklärte Bildungsminister Arne Duncan auf MSNBC, dass er die Homo-Ehe befürworte - ähnlich hatte sich im Winter Bauminister Shaun Donovan geäußert.
Wenig überraschend ließen die Journalisten nicht locker. Die konservativen Medien witterten ein gutes Wahlkampfthema ("Er will nur von seinem Versagen in der Wirtschaftspolitik ablenken"), während die liberalen Blätter und Sender eine Möglichkeit sahen, Obama endlich zu einer klaren Position zu zwingen. Es sei bei diesem Präsidenten leider nicht ungewöhnlich, dass er sich in einer wichtigen Frage nicht klar äußere, klagte die New York Times in einem Kommentar.
Mehr als 50 Mal wurde Obamas bemitleidenswerter Sprecher Jay Carney in der Pressekonferenz am Montag zu dem Thema befragt und musste immer neue Wortgirlanden erfinden, um nichts Substanzielles zu sagen. Das gleiche Spiel wiederholte sich am Dienstag.
Der Druck auf Obama, endlich "Ja" zur Homo-Ehe zu sagen, kam nicht nur von den Medien: Menschenrechtler sowie schwule und lesbische Aktivisten waren von Bidens Aussage begeistert und drängten auf eine Festlegung des Präsidenten. Oft wurde angemerkt, dass sich Obama 1996 für die Homo-Ehe ausgesprochen hatte, als er in Illinois für den Staatssenat kandidierte. Noch wichtiger dürften die Anrufe der homosexuellen Spendensammler Obamas gewesen sein. Der Washington Post zufolge ist jeder sechste top-bundler homosexuell - ein top-bundler organisiert mindestens 500.000 Dollar an Spendengeldern.
Wichtiges Geld für die Wahlkampfkasse
Die Aussage von Chuck Todd "Gay-Money hat Wall-Street-Money ersetzt" mag zwar überspitzt sein, doch der Politik-Chef von MSNBC umschreibt recht passend, wie wichtig das Geld reicher Homosexueller für die Wahlkampfkasse ist. Für die kommenden Wochen sind eine Reihe Auftritte Obamas bei Organisationen der gay community geplant, wo er mit entsprechenden Fragen bombardiert worden wäre.
Und noch etwas zeichnet sich ab: Offenbar ist das Obama-Lager bereit, sich von der "klassischen" Klientel der Demokraten, also den weißen Arbeitern und Gewerkschaftlern, zu entfernen und verstärkt auf eine Koalition aus jungen Leuten und gut ausgebildeten, sozialliberalen Städtern zu setzen. Diese Schichten sollen ihn mit den Afroamerikanern und den Hispanics zum Sieg tragen, analysiert das National Journal.
Welche Auswirkungen Obamas Festlegung für den Wahlkampf haben wird, lässt sich erst abschätzen, wenn Umfragedaten vorliegen. Einige konservative Kommentatoren und Aktivisten jubelten bereits, dank der klaren Positionierung Obamas sei Romney die Unterstützung der sozialkonservativen Wähler sicher - doch in dieser Klientel löste die Aussicht auf eine zweite Amtszeit des Demokraten schon vorher Albträume aus. Und Romney muss ebenfalls einen schwierigen Spagat meistern: Allzu harte Worte könnten die zum Sieg nötigen Wechselwähler verschrecken, eine weiche Position würde dagegen die republikanische Basis verärgern. Tendenziell scheinen die Amerikaner hier toleranter zu werden: Eine Erhebung des Pew Research Center ergab im April, dass 47 Prozent der US-Bürger die Einführung der Homo-Ehe unterstützen, während 43 Prozent dies ablehnen. 2001 hatten sich noch 60 Prozent dagegen ausgesprochen. In einer Gallup-Umfrage bezeichnete sich jüngst jeder Zweite als Befürworter der Homo-Ehe.
Neben dem Alter spielt die Parteizugehörigkeit eine große Rolle: Unter den Anhängern der Demokraten unterstützen 64 Prozent eine Legalisierung, während 32 Prozent dies ablehnen. Bei unabhängigen Wählern liegt das Verhältnis bei 54 zu 42 Prozent, während 57 Prozent der Republikaner gegen die Gleichsetzung gleichgeschlechtlicher Paare sind.
Tendenziell ist die Lage nach Ansicht der Demoskopen recht klar: Jeweils ein Drittel der Amerikaner sei kategorisch für die Homo-Ehe beziehungsweise total dagegen. Beide Gruppen messen dem Thema heute Bedeutung zu und haben ihre Wahlentscheidung bereits getroffen. Das übrige Drittel der Amerikaner habe weder eine klare Meinung zu dieser Frage noch ein gesteigertes Interesse. Derjenige Kandidat, der die Mehrheit dieser Gruppe von sich überzeugen kann, wird im November einen Vorteil haben. Doch womöglich werden Mitt Romney und Barack Obama viel stärker daran gemessen, wie überzeugend ihre wirtschaftspolitischen Programme sind.