Rechtsextremismus:"Für uns war die Bedrohung nie vorbei"

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20. Todestag: Mustafa Turgut (vorn) und Saabettin Turgut gedenken am 25. Februar ihres ermordeten Bruders und Cousins Mehmet Turgut. (Foto: Frank Hormann/dpa)

Vor 20 Jahren wurde Mehmet Turgut in Rostock von der Terrorgruppe NSU erschossen. Die Stadt ringt um ein würdiges Gedenken in einer Zeit, die sich für manche anfühlt wie ein Déjà-vu.

Von Ulrike Nimz, Rostock

Am Ort, an dem Mehmet Turgut starb, stehen heute zwei Bänke aus Beton. In die Lehnen ist Artikel 1 der UN-Menschenrechtscharta eingraviert, auf Deutsch und auf Türkisch: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Das Denkmal wurde vor zehn Jahren eingeweiht, es soll zum "leisen Dialog" einladen. Stattdessen wurde es mehrfach beschmiert, mit schwarzer Farbe übergossen. 2018 hinterließen Unbekannte das Kürzel: "NSU".

Man könnte hier sitzen und über das sprechen, was vor zwanzig Jahren geschah am Neudierkower Weg im Nordosten Rostocks, als hier noch keine modernen Mehrfamilienhäuser standen, sondern nur ein himmelblauer Imbiss. Mehmet Turgut schloss den "Mister Kebab Grill" am Morgen des 25. Februar 2004 auf, er war spontan eingesprungen für einen Freund. Um kurz nach zehn Uhr wurde er erschossen von Mitgliedern der rechtsextremen Terrorgruppe, die sich "Nationalsozialistischer Untergrund", kurz NSU, nannte.

Die Beamten ermittelten im Umfeld der Familie und zerstörten ihren Ruf

Mehmet Turgut wurde 24 Jahre alt, er war das fünfte der zehn Opfer des NSU. Der Mord in Rostock war der einzige in Ostdeutschland, die Aufarbeitung hat spät begonnen, lief schleppend. Der Zivilgesellschaft ist es zu verdanken, dass es heute Podiumsdiskussionen gibt, Demonstrationen, Plakate in der Fußgängerzone und Kränze auf diesen zwei Bänken.

Der 20. Jahrestag aber fällt in eine Zeit, in der die rassistischen Exzesse der Nachwendezeit sich nicht mehr ganz so weit weg anfühlen. Weil wieder öffentlich diskutiert wird, ob das Boot voll ist oder nicht, weil die Zahl der Straftaten gegen Geflüchtete steigt. Weil die in großen Teilen rechtsextreme AfD auch in Mecklenburg-Vorpommern im Aufwind ist. Im Juni werden die Kommunalparlamente neu gewählt.

"Wir spüren immer als Erste, wenn das gesellschaftliche Klima kippt, wenn eine neue Welle auf uns zurollt. Für uns war die Bedrohung nie vorbei", sagt Seyhmus Atay-Lichtermann, Vorsitzender des Rostocker Migrantenrates. 1999 kam er mit der Familie aus der Türkei in die Stadt, ging in Lichtenhagen zur Schule, lernte Mehmet Turgut kennen, den alle nur "Memo" nannten. Ein freundlicher junger Kurde, der die ganze Zeit gearbeitet habe, weil er unbedingt Fuß fassen wollte an einem Ort, der damals "kein sicherer Hafen" war.

Rostock zur Jahrtausendwende, das sei "Kriegsgebiet" gewesen, sagt Atay-Lichtermann, "fast schlimmer als das, wovor wir geflohen sind." Skinheads hätten Jagd auf Menschen gemacht, die nicht deutsch genug aussahen - nach der Schule, zwischen den Plattenbauten, im Bus. "Uns war völlig klar, dass das nicht irgendwelche gelangweilten Jugendlichen sind, die waren gut organisiert." Bei der Wohnungssuche habe sein Vater nur eine Bedingung gehabt: mindestens dritter Stock. Sonst schmeißen sie einem die Scheiben ein, mit Steinen oder noch schlimmer, mit Molotowcocktails wie am Sonnenblumenhaus.

Die Aufarbeitung läuft schleppend, Akten sind geschwärzt, Zeugen erinnern sich nicht

"Wir haben befürchtet, dass irgendwann jemand sterben könnte", sagt Atay-Lichtermann. "Als wir hörten, dass Mehmet erschossen wurde, haben wir gleich gesagt: Das waren Neonazis." Bis die Ermittlungsbehörden zum gleichen Schluss kamen, musste der NSU sich 2011 erst selbst enttarnen. Zuvor hatten die Beamten in Mehmet Turguts Umfeld ermittelt und so den Ruf der Familie zerstört.

Im Sommer will Seyhmus Atay-Lichtermann für die Rostocker Bürgerschaft kandidieren. Wie Turguts Familie kämpft er seit Jahren dafür, dass der Neudierkower Weg umbenannt wird. Mehmet-Turgut-Weg soll er heißen. Er wirbt dafür auf der Bühne des Peter-Weiss-Hauses, ein Kulturzentrum, in dem Konzerte stattfinden und Podiumsgespräche wie das am vergangenen Freitag: Was lässt sich lernen aus dem Mordfall Mehmet Turgut? Welche Versäumnisse gibt es, welche Konsequenzen? Dazu sollen Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Auskunft geben. Der Saal ist gut gefüllt mit Menschen, die deutlich jünger sind, als Mehmet Turgut heute wäre.

Seit 2018 läuft die politische Aufarbeitung in Mecklenburg-Vorpommern, zwei Untersuchungsausschüsse haben sich mit dem NSU-Komplex beschäftigt. Die Erkenntnisse sind dünn, Akten geschwärzt, Zeugen können sich nicht erinnern. Von "purer Enttäuschung" spricht Michael Noetzel. Er ist in Rostock geboren und sitzt für die Linke im Ausschuss. Man könne nur zu dem Schluss kommen, dass Aufklärung von den Behörden nicht gewollt sei. Warum schlossen die Ermittler ein rassistisches Motiv zunächst aus? Warum wählten die Täter ausgerechnet diesen versteckten Imbiss? Wie konnten sie ihn überhaupt kennen ohne Unterstützer vor Ort? Diese Fragen wird der Ausschuss vorerst wohl nicht mehr klären, man will sich künftig gegenwärtigeren Problemen wie dem rechtsextremen Netzwerk "Nordkreuz" widmen.

Der Tatort könnte den Namen des Opfers tragen, doch die Ortsbeiräte sehen das anders

Mustafa Turgut kann nicht einfach so weitermachen. Jedes Jahr steht er hier, am Neudierkower Weg, der noch nicht den Namen seines ermordeten Bruders trägt, nie tragen soll, wenn es nach den zuständigen Ortsbeiräten geht. Ein entsprechender Antrag wurde mehrfach abgelehnt. Viele Hände muss er schütteln an diesem Sonntagnachmittag, Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister, Rostocks Oberbürgermeisterin, der türkische Generalkonsul, alle sind sie gekommen. Eine neue Gedenktafel wird eingeweiht, frischer Rasen ist auch ausgesät, aber er will nicht so recht wachsen über diesen Tatort.

"Wir leben in einer schwierigen Zeit", sagt Mustafa Turgut in seiner kurzen Rede. Der Hass von damals, der fatale Gedanke, dass Menschen nicht gleich sind, verbreite sich wieder in der Gesellschaft. Kurz zuvor hat ihm die Präsidentin der Rostocker Bürgerschaft mitgeteilt, dass man versuchen wolle, eine andere Straße nach seinem Bruder zu benennen, wenn neu gebaut wird, in einem anderen Teil der Stadt. Man sei jetzt schlicht und einfach "in einer Sackgasse angelangt", sagt sie. Und Mustafa Turgut, ein schmaler Mann in Daunenjacke, sagt, das sei besser als nichts.

Hinter ihm legen Menschen Blumen nieder auf den zwei Betonbänken, die versetzt zueinander stehen. Man könnte hier miteinander reden oder, wortwörtlich, aneinander vorbei. Vielleicht gibt es kein passenderes Denkmal.

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