Es muss dieser Satz von Kanzlerin Angela Merkel gewesen sein, der den Bundesnachrichtendienst, oder zumindest einige Mitarbeiter in Pullach in helle Aufregung versetzt hat: "Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht." Gesagt im August 2013 nach den Enthüllungen von Edward Snowden.
Aufregung deshalb, weil es bis dahin zum täglichen Geschäft des BND gehörte, Freunde auszuspähen.
Das Paul-Löbe-Haus des Bundestages, an diesem Mittwoch, Sitzungssaal 2700. Der NSA-Untersuchungsausschuss ist zu einer Sondersitzung zusammengekommen, um der Sache mit den Selektoren nachzugehen. Also jenen Suchbegriffen der Amerikaner, die auf den Rechnern des BND entgegen aller Absprachen die Datenbanken nach deutschen und/oder europäischen Personen, Unternehmen und "europäischen Ministerien", wie sich ein Zeuge verplapperte, durchpflügten. Erst vor wenigen Tagen wurden alle komplett abgestellt.
Angeblich soll BND-Chef Schindler nichts gewusst haben
Die Affäre nagt an der Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und insbesondere der Kanzlerin. Im Kanzleramt sollen schon 2008 und spätestens 2010 Hinweise vorgelegen haben, dass die Selektoren des US-amerikanischen Geheimdiensts NSA womöglich gegen deutsche Interessen, wenn nicht sogar gegen deutsches Recht verstoßen. Im August 2013 hat es BND-intern eine Überprüfung der Selektoren gegeben. Dabei sind Abertausende problematische Suchbegriffe aufgefallen, die - so sagen es die BND-Leute - schnell inaktiv gestellt wurden.
Was kaum zu glauben ist: Über diese hochbrisanten Vorgänge wollen die Verantwortlichen BND-Mitarbeiter ihre Vorgesetzten nicht informiert haben. Wenn die Legende stimmt, dann wusste BND-Chef Gerhard Schindler nichts von den umfangreichen Lösch-Aktionen. Sein zuständiger Abteilungsleiter Hartmut Pauland auch nicht. Und ebenso soll das Kanzleramt keine Informationen bekommen haben.
BND-Affäre:Merkels Vorteil, Gabriels Albtraum
Der SPD-Chef keilt gegen die Bundeskanzlerin wie lange nicht mehr. Seine Hoffnung: Merkels Teflon-Schicht ein paar Kratzer zufügen zu können. Für die SPD ist das ein Risiko-Spiel.
Schindler wird wie Pauland an diesem Donnerstag im Ausschuss als Zeuge gehört. Die Spitze jener Behörde also, in der das Bundeskanzleramt "im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht (...) technische und organisatorische Defizite (...) identifiziert" habe, wie es in einer Pressemitteilung des Kanzleramtes heißt.
Pauland, erst seit Januar 2013 Abteilungsleiter im BND, fängt an leiser und unverständlicher zu reden, als es am Nachmittag um die entscheidenden Fragen geht. Nein, er habe bis März diesen Jahren überhaupt nicht mit gar keinem Mitarbeiter über Selektoren gesprochen. Dass es da Probleme gegeben habe, das habe er erst "am 13. März, 22:45 Uhr" erfahren.
Mindestens fünf Mitarbeiter wussten von der Suche
Erst dann soll angeblich BND-intern aufgeflogen sein, dass irgendetwas mit den Selektoren nicht stimmte. Und das auch nur wegen zweier treffsicherer Beweisanträge, die der NSA-Ausschuss gestellt hat. Immerhin: Auf die Frage, ob er wusste, dass der BND auch Freunde abhört, antwortet Pauland mit einen leisen: "Ja."
Mindestens fünf BND-Mitarbeiter aber müssen von der Suche nach faulen Selektoren schon August 2013 gewusst haben. Drei davon hat der Ausschuss an diesem Mittwoch bis kurz vor Mitternacht gehört. Einen vierten, Dr. T., schon vor zwei Wochen.
Spionageskandal:Kanzlerin der Verdunkelung
Vor zwei Jahren hat Angela Merkel versprochen, alles zu tun, um die NSA-Abhöraktionen aufzuklären. Das Gegenteil ist geschehen. Die Kanzlerin muss jetzt beweisen, dass sie zur Aufklärung beitragen will - und nicht zur Verschleierung.
Es geht um die beiden Unterabteilungsleiter D.B. und W.K. aus Pullach, den Mathematiker Dr. T., den Sachbearbeiter W.O. in Bad Aibling und seinen Dienststellenleiter R.U. In der Außenstelle des deutschen Geheimdienstes wird vor allem Sattelten-Kommunikation überwacht ist vor allem die technische und personelle Schnittstelle in der Zusammenarbeit von BND und NSA.
Die Geschichte, die sich aus den Zeugenaussagen ergibt, klingt wie das Drehbuch zu einer Folge der Fernsehserie "Büro, Büro". Angefangen haben soll alles so: Unterabteilungsleiter D.B. kommt Ende Juli oder Anfang August 2013 auf die Idee, die Selektoren überprüfen zu lassen. Er will den Mathematiker Dr. T. damit beauftragen, der allerdings in der Unterabteilung seines Kollegen W.K. sitzt. D.B. fragt also W.K., klärt ihn grob über die Sonderprüfung auf. Der ist einverstanden, die Arbeit geht los.
Dr. T. findet in dem Meer von acht bis neun Millionen Selektoren auf den BND-Rechnern praktisch auf Anhieb Zigtausende problematische Suchbegriffe. Statt das Ergebnis an D.B. zu mailen, wie sonst üblich, druckt er die Liste diesmal aus. Von einem "dicken Stapel Papier" ist die Rede.
D.B. schickt diesen Stapel Papier unkommentiert und ohne jede Gebrauchsanweisung an R.U., den Dienststellenleiter Bad Aibling und direktem Untergebenem von W.K.. Dort verschwindet die Liste. Niemand scheint zu wissen, was damit geschehen ist.
Sonderprüfung "keine Bedeutung beigemessen"
Auftraggeber D.B. aber ist sich sicher, dass die Liste komplett abgearbeitet worden sei: "Es ist mir bekannt geworden, dass diese Löschungen durchgeführt wurden." Wer ihm das gesagt hat? Das weiß er nicht mehr. Über das Ergebnis will er aber W.K. informiert haben.
Der erinnert sich im Ausschuss aber gerade noch daran, das D.B. außer der Reihe Selektoren prüfen lassen wollte. Ansonsten habe er dieser höchst ungewöhnlichen Sonderprüfung "keine Bedeutung beigemessen". Er habe einfach genug anderes zu tun gehabt in der Zeit.
Nur zur Erinnerung: W.K. leitet zu dem Zeitpunkt die Unterabteilung, in der gerade Tausende Selektoren der NSA gelöscht werden. Bekommt darüber aber von D.B. keine konkreten Informationen und holt sie sich auch nicht von seinen eigenen Mitarbeitern ein. Geschweige denn, dass diese ihm von sich aus Bericht erstatten.
In Bad Aibling geschieht nun Merkwürdiges.
Statt einfach mit der Liste des Dr. T. zu arbeiten, beauftragt Dienstellenleiter R.U. den Sachbearbeiter W.O. ebenfalls mit einer Sonderprüfung der Selektoren. Dabei gehört Selektoren-Prüfung gar nicht zu dessen Aufgaben. Sein Job: W.O. sammelt die täglich abgerufenen Selektoren der NSA, schickt sie einmal pro Woche zur Prüfung nach Pullach und stellt die geprüften Selektoren in die Datenbanken des BND ein. Wenn Selektoren in der Prüfung durchfallen, dann markiert er sie als inaktiv, damit sie keine Treffer erzielen können.
Jetzt also soll er plötzlich prüfen. Unter anderem ob "europäische Ministerien" in den Selektoren auftauchen. Also Freunde. Mehr Informationen bekommt er nicht von seinem Chef. W.O. legt los, überlegt, wonach er suchen könnte. Schnell legt er R.U. per Mail ein erstes Ergebnis vor. Am 14. August 2013 um 7:01 Uhr schreibt er an R.U., er habe nach den E-Mail-Endungen .diplo, .gov, .eu und dem Begriff "Bundesamt" gesucht und 12 000 Selektoren gefunden. "Was soll ich damit machen?" Die knappe Antwort keine zwei Stunden später: "Löschen!"
Dann geschieht erneut Seltsames. W.O. gibt in der Ausschusssitzung an, er habe die Selektoren wie befohlen gelöscht und - ohne einen neuen Folgeauftrag von R.U. - selbständig weitergesucht, neue Begriffe recherchiert, Selektoren gelöscht, Begriffe gesucht, gelöscht. Drei Wochen lang. Tag für Tag.
Eine Dokumentation darüber? Gibt es nicht. Wen er informiert hat? Niemanden. Nicht R.U., nicht seinen Unterabteilungsleiter in Pullach, W.K.. Dass auch Dr. T. und D.B. mit im Spiel waren, will er nicht gewusst haben.
Die Liste ist ein Politikum
W.O. ist für die vielleicht größte Selektoren-Löschaktion seit Bestehen der Kooperation von BND und NSA im Jahr 2002 verantwortlich. Und er sagt kein Wort. Es fragt ihn auch keiner. W.K. hakt nicht nach. D.B. auch nicht.
Wenn D.B. gefragt wird, ob er denn BND-Chef Schindler oder andere Vorgesetzte informiert hat, dann beruft er sich allerdings auf sein Zeugnisverweigerungsrecht. Offenbar um sich vor disziplinarrechtlicher Verfolgung zu schützen. Andererseits ist D.B. in die interne Aufklärungsgruppe des BND berufen worden. In anderen Fällen würden Mitarbeiter womöglich vom Dienst suspendiert.
Interessant in dem Zusammenhang: Im Sommer 2013 muss er kurzfristig und krankheitsbedingt seinen direkten Vorgesetzten vertreten, Abteilungsleiter Hartmut Pauland. Der direkter Vorgesetzte von D.B. ist damit für ein paar Wochen BND-Chef Schindler, dem er dann durchaus direkt Bericht hätte erstatten können.
Obwohl Schindler nicht informiert gewesen sein soll, hat er überdies im November 2013 dennoch einen schriftlichen Erlass herausgegeben: Nato, europäische Institutionen und Regierungen seien künftig zu schützen. Anlass: Unbekannt. Wohl irndeiwe wegen der Snwoden-Dokumente, glaubt Zeuge Pauland.
Debatte um No-Spy-Abkommen:Wie die Kanzlerin sich von Wunschvorstellungen leiten ließ
Kurz vor der Bundestagswahl behauptete Kanzlerin Merkel, es werde ein No-Spy-Abkommen mit den USA geben. Die Grünen haben nach konkreten Hinweisen dazu gefragt. Die Antwort der Bundesregierung ist entlarvend.
Die Liste mit den faulen Selektoren ist jetzt ein Politikum. Seit Wochen verhandelt die Bundesregierung mit den USA über eine Freigabe der Liste für die Aufklärer im NSA-Untersuchungsausschuss und dem Parlamentarischen Kontrollgremium, das die Geheimdienste überwachen soll. Bisher ohne Ergebnis. Inzwischen wurde ein Sonderermittler ins Spiel gebracht, der die Liste einsehen soll, um dann den Ausschüssen darüber Bericht zu erstatten. Das aber lehnen Linke und Grüne kategorisch ab. Sie wollen sich selbst ein Bild machen. Um einen Ermittler einzusetzen, bedarf es einer Zwei-Drittel-Mehrheit in den jeweiligen Ausschüssen.