Demografie:Kommission empfiehlt Beschränkung der Migration

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Überfüllt: Asylsuchende mussten im Freien schlafen, als im Sommer 2022 das Auffangzentrum in Ter Apel keinen Platz mehr bot. (Foto: Vincent Jannink/AFP)

Die Bevölkerung der Niederlande solle nicht über 20 Millionen wachsen, sagen Experten. Um das zu erreichen, müsse die Zuwanderung begrenzt werden. Die potenziellen Regierungsparteien hören es mit Freude.

Von Thomas Kirchner

Migration, Migration, Migration. Seit vielen Monaten dreht sich die politische Diskussion in den Niederlanden zuvörderst um dieses Thema. Kurz vor der Wahl im November wurde es derart dominant, dass es einiges beitrug zum fulminanten Sieg der Parteien, die sich für das Beschränken der Zuwanderung starkmachen. Allen voran die rechtsnationale, extrem migrationsfeindliche Freiheitspartei von Geert Wilders.

Dass nun wirklich etwas getan werden müsse, damit weniger Menschen ins Land kommen - notfalls auch durch Ausscheren aus der EU-Politik -, dieser Wunsch ist auch die gemeinsame Basis jener vier Parteien, die derzeit über eine Regierungskoalition verhandeln.

In diese Stimmung platzt nun der Bericht einer hochkarätigen unabhängigen Expertengruppe, die sich Gedanken gemacht hat über die Entwicklung der Bevölkerung bis 2050 und die möglichen Folgen. Das Fazit der Staatskommission für Demografie lenkt auf den ersten Blick jede Menge Wasser auf die Mühlen der Migrationskritiker:Damit die Niederlande lebenswert bleiben, müsse die Zuwanderung begrenzt werden. So lassen sich die rund 400 Seiten der Untersuchung zusammenfassen, und so wird sie in vielen Medien rezipiert. Im Detail liefert der Bericht ein Bild mit mehr Nuancen.

Solche Expertenberichte spielen in den Niederlanden traditionell eine wichtige Rolle; Politiker und Bevölkerung orientieren sich stark an ihnen. Die Regierung hatte Mitte 2022 die Kommission beauftragt. Dieser gehören überwiegend Wissenschaftler an, etwa der bekannte Soziologe Paul Scheffer, aber auch frühere Politiker. Ihr Ansatz zielt darauf ab, die Bevölkerungsentwicklung nicht einfach geschehen zu lassen, sondern einzugreifen. Dafür skizziert die Kommission Szenarien und liefert Handlungsanweisungen, um zu verdeutlichen, wo und wie die Politik gestalten könnte und sollte.

Gemäßigtes Wachstum wäre am besten, finden die Fachleute

Die Statistiker erwarten, dass die Bevölkerung von derzeit knapp 18 Millionen bis 2050 auf etwa 20 Millionen Menschen wächst. Dieses "gemäßigte Wachstum" favorisiert auch die Kommission. Deutlich weniger Menschen wären schlecht für die Wirtschaft, meint sie. Ebenfalls schlecht wäre aber auch ein stärkeres Wachstum, auf bis zu 22,8 Millionen. Das bringe "Knappheit, Unannehmlichkeiten und Ärgernisse" mit sich, befindet die Kommission. Es wäre nicht mehr möglich, allen ausreichend Bildung, Gesundheitsversorgung oder nur eine Wohnung zukommen zu lassen. Soziale Ungleichheit nähme zu, was den Rechtsstaat beschädigen und das Solidaritätsgefühl in der Gesellschaft senken könnte. Außerdem leide die Umwelt.

Die Möglichkeit eines derart starken Wachstums sei "durchaus vorhanden", sagte der Kommissionsvorsitzende Richard van Zwol der Zeitung NRC Handelsblad. Um es zu verhindern, könne die Politik etwas tun. Den Wohnungsbau fördern etwa, aber auch die Zuwanderung begrenzen, auf netto 50 000 Menschen im Jahr. Vor allem die Arbeitsmigration könne reduziert werden, etwa durch das Verbot, schlecht bezahlte Arbeitskräfte aus EU-Ländern für Niedriglohnjobs in die Niederlande zu holen. Was Asylsuchende betrifft (etwa zwölf Prozent der Zuwanderer), sieht die Kommission die EU mit ihrer Asylreform auf dem richtigen Weg. Notfalls müssten die Niederlande aber um Ausnahmen bei der Migrationspolitik bitten.

Mehr Sterbefälle als Geburten, aber die Einwohnerzahl steigt

Über die Bevölkerungszahl wird in den Niederlanden intensiver diskutiert als anderswo. Wie in den meisten europäischen Ländern steigt das Durchschnittsalter zwar und die Bevölkerung vergreist: Seit Langem liegt die Zahl der Geburten niedriger als die der Sterbefälle. Andererseits gehören die Niederlande zu den Ländern mit der am stärksten wachsenden Bevölkerung. Nur die Schweiz wächst relativ gesehen schneller, Deutschland stagniert mehr oder weniger seit der Wiedervereinigung.

Das ist in den Niederlanden ausschließlich auf Zuwanderung zurückzuführen. Gleichzeitig sind sie mit 522 Einwohnern pro Quadratkilometer eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt - der EU-Durchschnitt liegt bei 109 Menschen. Das alles trägt zu der verbreiteten Auffassung bei, das Land sei zu "voll".

Der Kommissionsbericht stützt vor allem die Linie von Politikern wie Pieter Omtzigt (Neuer Sozialer Vertrag), der die Netto-Zuwanderung auf eben jene 50 000 im Jahr deckeln möchte. Wilders hingegen kann sich nur verhalten darüber freuen, er will den Zuzug schließlich sofort auf null bringen. Beide loten gerade zusammen mit Dilan Yeşilgöz von der rechtsliberalen VVD und Caroline van der Plas (Bauer-Bürger-Bewegung) die Möglichkeit einer Regierungszusammenarbeit aus.

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Entgegen dem Wunsch dieser vier Parteien bildete sich am Dienstag überraschend eine Mehrheit für ein Gesetzesvorhaben im Bereich Migration, um das seit Monaten gestritten wird. Die Senatoren der VVD in der Ersten Kammer, dem Oberhaus, erklärten sich bereit, für das sogenannte Verteilungsgesetz zu stimmen.

Es soll dafür sorgen, dass Asylsuchende künftig gerechter im Land verteilt werden. Bisher konzentrieren sie sich in wenigen Auffangzentren, vor allem in Ter Apel im Norden. Dort mussten 2022 Hunderte Migranten im Freien schlafen. Laut dem Verteilungsgesetz sollen die Städte freiwillig Angebote machen, Asylsuchende aufzunehmen, können notfalls aber auch dazu verpflichtet werden. Vor allem rechte Parteien lehnen das "Zwangsgesetz" vehement ab; sie argumentieren, es werde zu noch mehr Einwanderung führen.

Die Zweite Kammer, das Unterhaus, hatte das von einem VVD-Staatssekretär vorgeschlagene Gesetz kurz vor der Wahl verabschiedet. Nach der Wahl versuchte ausgerechnet VVD-Chefin Yeşilgöz es noch zu stoppen. Man müsse dem Wahlergebnis schließlich Rechnung tragen, sagte sie. Der Schritt der VVD-Senatoren ist insofern ein herber Schlag, der die Autorität der Vorsitzenden in der Partei beschädigt.

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