Nach Putschversuch:Was der Ausnahmezustand für die Türkei bedeutet

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  • In der Türkei gilt seit dem frühen Donnerstagmorgen der Ausnahmezustand.
  • Die türkische Verfassung erlaubt es, bei einem "gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung" Grundrechte einzuschränken.
  • Der Ausnahmezustand steht eine Stufe unter dem noch härteren Kriegsrecht.

"Säuberungen" an Hochschulen, im Militär und in der Justiz. Ein Klima der Angst in der Bevölkerung. In der Türkei ist seit dem gescheiterten Militärputsch nichts mehr so, wie es war - jetzt gilt auch offiziell der Ausnahmezustand. Präsident Recep Tayyip Erdoğan rief ihn in der Nacht zum Donnerstag aus, um rasch "alle Elemente entfernen zu können", die in den Putschversuch verstrickt seien, wie er sagte. Der versuchte Staatsstreich sei "vielleicht noch nicht vorbei".

Drei Monate soll der Ausnahmezustand nun gelten. Was bedeutet er für die Bevölkerung? Und wie sieht die rechtliche Situation aus?

Die türkische Verfassung gibt dem Kabinett unter Vorsitz des Staatspräsidenten das Recht, nach Beratungen mit dem Nationalen Sicherheitsrat den Ausnahmezustand für maximal sechs Monate zu verhängen. Auslöser können nach Artikel 120 "weit verbreitete Gewaltakte zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" oder ein "gravierender Verfall der öffentlichen Ordnung" sein. Darauf beruft sich nun Präsident Erdoğan. Die Regierung betont, dass nicht das Volk, sondern der Staat betroffen ist. Das alltägliche Leben der Bürger werde nicht beeinflusst. Auch die Arbeit des Parlaments soll unberührt bleiben. Doch Artikel 15 der türkischen Verfassung erlaubt nun, Grundrechte einzuschränken oder sie sogar auszusetzen.

  • Unter dem Ausnahmezustand können die Behörden Ausgangssperren verhängen, Versammlungen untersagen und Medien-Berichterstattung kontrollieren oder verbieten.
  • Der Fahrzeugverkehr kann zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Gegenden verboten werden.
  • Gegenden können abgeriegelt oder evakuiert werden.
  • Der Verkehr zu Land, See und Luft kann kontrolliert werden.
  • Möglich sind auch Personen- und Hauskontrollen.
  • Es dürfen damit Maßnahmen ergriffen werden, die von den Garantien in der Verfassung abweichen. Voraussetzung ist allerdings, dass Verpflichtungen nach internationalem Recht nicht verletzt werden.
  • Während des Ausnahmezustands kann das Kabinett unter Vorsitz des Präsidenten Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Diese Erlasse werden zunächst im Amtsblatt veröffentlicht und am selben Tag dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt. Gegen die Dekrete kann nicht vor dem Verfassungsgericht vorgegangen werden.

Nach Angaben von Vize-Ministerpräsident Mehmet Şimşek sollen aber nicht alle diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden: Weder die Pressefreiheit noch die Versammlungs- oder die Bewegungsfreiheit würden eingeschränkt. Die türkische Regierung hat allerdings schon ein paar Tage vor Bekanntgabe des Ausnahmezustands Gülen-nahen 24 Radio- und Fernsehsendern die Sendelizenz entzogen.

Niemand darf zudem der Verfassung zufolge gezwungen werden, seine Religionszugehörigkeit, sein Gewissen, seine Gedanken oder seine Meinung zu offenbaren, oder deswegen bestraft werden. Strafen dürfen nicht rückwirkend verhängt werden. Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung: Niemand ist schuldig, bevor ein Gericht ihn nicht verurteilt hat. Der Ausnahmezustand kann auch bei Naturkatastrophen, gefährlichen Epidemien oder einer schweren Wirtschaftskrise verhängt werden. Er ist eine Stufe unter dem noch härteren Kriegsrecht.

Jahrelangen Ausnahmezustand gab es früher in mehrheitlich kurdischen Provinzen im Südosten des Landes. Dieser war zuletzt Ende 2002 in den Provinzen Diyarbakır und Şırnak aufgehoben worden. Auch in Frankreich gilt seit den Terroranschlägen von Paris im November 2015 der Ausnahmezustand.

© SZ.de/dpa/lalse - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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