Nach dem Erdbeben:Haiti und das süße Gift der Hilfe

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Für Haiti könnte die Hilfsbereitschaft eine Gelegenheit zum Neuanfang sein - wenn das Ausland seine Eigeninteressen hintanstellt.

Stefan Klein

Naturkatastrophen sind unfair, sie treten vorzugsweise dort auf, wo die Menschen ohnehin schon in Elend und Bedrängnis leben. Eines der letzten großen Erdbeben traf im Oktober 2005 die langjährige Kriegs- und Krisenregion Kaschmir, und zwar den pakistanischen Teil davon. Prompt geriet die Hilfe zwischen die Fronten. ´

Ein Tsunami der Hilfsbereitschaft: Helfer verteilen Wasser an Opfer der Erdbebenkatastrophe. (Foto: Foto: AFP)

Das Angebot des Erzfeindes Indien, in der Stunde der Not mit Helikoptern auszuhelfen, lehnten die Pakistaner zunächst ab; dann sagten sie "Ja, danke" - aber nur, wenn die Helikopter von pakistanischen Piloten geflogen würden. Das wiederum lehnte Indien ab. Statt den leidenden Menschen schnellstmöglich zu Hilfe zu eilen, erging man sich in kleinlichem Hickhack.

Als im Mai 2008 der Wirbelsturm Nargis seine zerstörerische Kraft auf Birma losließ, da hatte er sich das von einer unfähigen Militärjunta geknechtete, ärmste Land der Region ausgesucht. Auch damals tat sich die Hilfe schwer.

Haiti ist die permanente Katastrophe

Zwar machte die internationale Hilfsmaschinerie sofort mobil und schickte ihre Spezialisten los, doch ins eigentliche Notstandsgebiet des Irrawaddy-Deltas kamen sie nicht hinein. Weil die kontrollwütigen Generäle fürchteten, durch den Zustrom internationaler Helfer könnte sich ihr Griff auf das Land lockern, sperrten sie die Region für Ausländer. Um ihres Machterhalts willen spielten sie mit dem Leben Tausender.

In Haiti ist kein Krieg, das Land wird auch nicht von weltfremden Generälen regiert. Es ist viel schlimmer. Haiti, das ist die permanente Katastrophe. Sie ist sozialer, ökologischer und politischer Natur, sie ist gewissermaßen allumfassend.

Auf diese Ruine von einem Staat trifft nun ein Tsunami der Hilfsbereitschaft. Es gehört zu den großen zivilisatorischen Errungenschaften, dass sich Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind, oft auf die Solidarität der internationalen Gemeinschaft verlassen können. Das ist auch im Notfall Haiti so, Staaten und Hilfsorganisationen überbieten sich gegenseitig in ihrem Eifer, den Haitianern zu helfen und ihr Elend zu lindern.

Doch das, was derzeit auf die Insel zurollt, würde sich dort auch in normalen Zeiten nicht bewältigen, nicht kanalisieren, nicht absorbieren lassen. Jetzt geht es erst recht nicht, und so gesehen muss man sich nicht wundern über das von Gewaltausbrüchen begleitete Durcheinander, in das die Helfer erst mühsam eine Struktur bringen müssen.

Ein süßes Gift

Die ersten zwei Wochen nach so einer Katastrophe sind die schwierigsten, danach wird die Hilfe zusehends besser greifen, und der Rest der Welt wird erleichtert aufatmen. Dabei bricht genau dann die eigentlich kritische Phase an, in der sich nämlich entscheiden wird, ob Haiti wirklich geholfen oder womöglich noch tiefer ins Elend gestoßen wird.

Hilfe, speziell Nahrungsmittelhilfe, erweist sich nicht selten als ein süßes Gift, das den Keim in sich birgt für das nächste, in seinen langfristigen Wirkungen womöglich sogar noch größere Unglück.

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In Bildern

Es gibt zwei Arten von Hilfe. Die gute und nachhaltige zielt auf die Selbsthilfekräfte der Betroffenen, sie legt die Grundlagen dafür, dass sie sich schnellstmöglich auf die eigenen Beine stellen und ihr Leben wieder in den Griff bekommen können. Die schlechte schafft Abhängigkeiten, führt zu Unselbständigkeit und in letzter Konsequenz zur Mentalität des Bittstellers, der sich selber nichts mehr zutraut und nur noch schicksalsergeben die Hand aufhält.

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Den Haitianern würde man wünschen, dass sie zur Selbstachtung finden, und ein Mittel dazu wäre eine funktionierende Landwirtschaft, die dafür sorgt, dass sich das Land aus eigener Kraft mit dem Grundnahrungsmittel Reis ernähren kann. Das Land dafür gibt es, die Bauern auch, doch weil Haiti nur ein schmuddeliger Flecken ist im Hinterhof der Mächtigen, hat es sich im Zuge der Globalisierung öffnen müssen für billigen, amerikanischen Importreis.

Das ließ den Preis für den einheimischen Reis abstürzen, und bald danach war die haitianische Reisproduktion am Ende. Sie existiert heute nur noch als kümmerlicher Restposten, und in welche Falle man da getappt war, wurde spätestens Anfang 2008 klar, als plötzlich weltweit die Nahrungsmittelpreise dramatisch stiegen - auch für amerikanischen Reis.

Die Interessen der anderen

Die heimische Produktion ruiniert, den Hunger importiert: Es war ein fataler Irrweg, und es würde dem Land und der Würde seiner Menschen enorm helfen, ging man jetzt daran, ihn zu korrigieren. Die Gelegenheit ist günstig.

Noch nie ist der lange vergessenen Inselhälfte so viel guter Wille zugeflossen, und was mindestens genauso wichtig ist: Überall in der Welt werden hohe Millionenbeträge lockergemacht, von denen man gar nicht wusste, dass es sie noch gibt. Damit ließe sich Haiti zum Selbstversorger machen, zumindest könnte man die Grundlagen dafür legen, die Frage ist nur: Will das die internationale Gemeinschaft? Ist das die Art von Hilfe, die sie im Programm hat? Leider nein.

Hilfe ist ja fast nie nur selbstlos. In den wohlhabenden Ländern der Welt werden Überschüsse an Nahrungsmitteln produziert, die es loszuwerden gilt, und die Natur- und anderen Katastrophen dieser Welt bieten die Möglichkeit dazu. Es gibt sogar eine weltweit operierende Organisation für diesen Zweck, das ist das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen. Gerade hat es stolz mitgeteilt, dass aus seinen Beständen bisher 1,5 Millionen Nahrungsmittelrationen an etwa eine Million Haitianer verteilt wurden.

Das ist zum jetzigen Zeitpunkt gewiss gut und richtig, auf längere Sicht aber stellt es genau die Art von süßem Gift dar, die statt Entwicklung nur die Bettlermentalität fördert. Viele Jahre hat man das Gift in Afrika verabreicht, und die Folgen dieses von Menschen, nicht von der Natur, geschaffenen Desasters hat der Kontinent bis heute nicht überwunden.

Geschäft ist Geschäft

Dort allerdings regt sich inzwischen Widerspruch. Es mehren sich Stimmen, die sagen, zur Hölle mit der Hilfe, vor allem mit der Entwicklungshilfe, und dem anderen Herz-für-Afrika-Klimbim, lasst uns in Ruhe, wir schaffen es besser aus eigener Kraft.

Haiti in seiner Lage wird nehmen, was es bekommt, und so wie es aussieht, wird es nicht die Hilfe sein, die dem Land nützen würde - nämlich Hilfe zur Selbsthilfe. Das Welternährungsprogramm wird weiter die Überschüsse der Reichen verteilen, und die USA wollen Haiti natürlich auch in Zukunft weiter ihren Reis verkaufen.

Geschäft ist Geschäft, man wird es sich nicht verderben wollen, und deshalb dürfte in den Augen der Amerikaner der Wiederaufbau der haitianischen Reisproduktion keine hohe Priorität besitzen.

Naturkatastrophen sind unfair, aber sie schaffen in all ihrer Schrecklichkeit auch Gelegenheiten zu wirklichen Neuanfängen. Nach dem Tsunami im Dezember 2005 kamen die Bürgerkriegsparteien in der schwer getroffenen indonesischen Provinz Aceh zur Besinnung und machten Frieden. Auch Haiti könnte sich aus den Trümmern heraus, mit internationaler Hilfe, neu erfinden. Die Gelegenheit ist da. Man müsste sie nur nützen.

© SZ vom 23.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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