Hamburgs Erzbischof Heße bietet Papst Franziskus wegen des Missbrauchsskandals seinen Rücktritt an. "Ich bin bereit, meinen Teil der Verantwortung für das System zu tragen. Ich muss und will die Konsequenzen aus meinem damaligen Handeln ziehen", sagte Heße am Donnerstag. "Ich bedauere es sehr, wenn ich durch mein Handeln Betroffenen und ihren Angehörigen neuerliches Leid zugefügt haben sollte."
Der Strafrechtler Björn Gercke hatte zuvor ein brisantes Gutachten zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch vorgestellt und dabei den früheren Erzbischof Joachim Meisner schwer belastet. "Herrn Dr. Meisner trifft ein Drittel der von uns festgestellten Pflichtverletzungen." Bei ihm seien 24 Pflichtverletzungen in Zusammenhang mit Missbrauch festgestellt worden. Dabei gehe es größtenteils um die Aufklärungs- und Meldepflicht, aber auch um die Sanktionierungspflicht, die Verhinderungspflicht und um die Opferfürsorge.
Bei dem amtierenden Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki, der das Gutachten in Auftrag gegeben hatte, stellten die Juristen nach eigenen Angaben keine Pflichtverstöße fest. Schwer beschuldigt wurde auch der heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Bei ihm gebe es elf Pflichtverletzungen. Dominikus Schwaderlapp, heute Weihbischof im Erzbistum Köln und Generalvikar unter Meisner, habe mindestens acht Pflichtverletzungen begangen.
Belastet wird dagegen auch der Leiter des Kölner Kirchengerichts, Günter Assenmacher, der in zwei Fällen unzutreffende Rechtsauskünfte gegeben haben soll. In keinem einzigen Fall attestierten die Gutachter den Verantwortlichen Strafvereitelung im strafrechtlichen Sinn.
Woelki zieht umgehend Konsequenzen
Kardinal Woelki erklärte überraschend noch in der laufenden Pressekonferenz, dass Schwaderlapp und Assenmacher mit sofortiger Wirkung vorläufig von ihren Aufgaben entbunden würden. Erste Konsequenzen aus dem Gutachten sollten eigentlich erst am kommenden Dienstag vorgestellt werden. Woelki wirkte in seinem Statement sehr angefasst. Das Handeln müsse auch für Kleriker Konsequenzen haben. Bei Laien sei augenscheinlich immer schnell und konsequent gehandelt worden. Das spreche Bände und "das berührt mich und beschämt mich auch zutiefst".
In einer Pressemitteilung kurz nach Veröffentlichung des Gutachtens erklärte Schwaderlapp, er werde Papst Franziskus seinen Amtsverzicht anbieten. Er habe Kardinal Woelki bereits im Vorfeld "über diesen Schritt informiert und ihn gebeten, mich vom heutigen Tag an bis zu einer Entscheidung aus Rom von meinen bischöflichen Aufgaben freizustellen".
Er werde das Gutachten in den kommenden Tagen nun erst einmal lesen müssen und weitere Konsequenzen daraus ableiten, erklärte Woelki. Nicht in allen Fällen - etwa bei Diözesanbischöfen - sei er zuständig. "Ich werde das Gutachten deshalb noch heute nach Rom weiterleiten", so Woelki.
Damit bezog sich Woelki auf den heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der einst in Köln Personalverantwortlicher und Generalvikar war. Heße wird unter anderem vorgeworfen, als Personalchef kein Protokoll eines Gespräches mit einem beschuldigten Priester geführt zu haben, damit es bei staatsanwaltlichen Ermittlungen nicht beschlagnahmt werden kann. Dazu sagte die Co-Autorin der Studie, Kerstin Stirner: Das aktuelle Gutachten habe ergeben, "dass ein Protokoll bewusst nicht gefertigt wurde". Woelki kann gegen Heße aber nicht vorgehen, weil dieser inzwischen Erzbischof von Hamburg ist. Nur der Papst kann Diözesanbischöfe entlassen.
Der Jurist Gercke erklärte zudem, dass der frühere Kölner Erzbischof Meisner (1933-2017) zusätzlich zu den Beständen des Erzbistums einen eigenen Ordner mit Akten über "Brüder im Nebel" geführt habe, "in dem er geheimhaltungsbedürftige Unterlagen aufbewahrt" habe. Mindestens zweimal habe es Aktenvernichtungen gegeben, wie sie das kirchliche Recht jedoch vorschreibe. Im Deutschlandfunk hatte Meisner 2010 auf die Frage zu den gerade bekanntgewordenen Missbrauchsfällen gesagt: "Nichts geahnt. Nichts geahnt." Die Juristin Stirner hingegen sagte, Meisner seien durchaus schon vor 2010 Missbrauchsfälle bekannt gewesen.
"Erhebliche Mängel" bei den Akten
Die Untersuchung geht Gercke zufolge bis zum Jahr 1975 zurück und führt 243 Beschuldigte und "386 individualisierbare Betroffene" auf. Nach den Aktenrecherchen gab es 314 Betroffene sexualisierter Gewalt, die überwiegend männlich und unter 14 Jahre alt waren zum Zeitpunkt der Tat.
Bei der Erstellung des Gutachtens stützten sich die Juristen unter anderem auf von der katholischen Kirche bereitgestellte Akten. Die Kirche habe zugesichert, dass die Akten nach aktuellem Stand vollständig gewesen seien. Gercke sagte über den Bestand der Akten: "Wir haben erhebliche Mängel in Hinblick auf die Organisation des Aktenbestands sowie der Aktenführung im Erzbistum festgestellt." Die Juristen seien auf 20 Namen gestoßen, die möglicherweise in Zusammenhang mit Missbrauch standen und die weder in den Akten standen noch der beim Erzbistum angesiedelten kircheninternen Interventionsstelle bekannt waren.
Der Fokus des Gutachtens liegt nicht auf den Tathergängen, sondern auf dem Agieren der Bistumsleitung. "Es geht uns nicht darum 'Was hat Priester X dem Kind Y angetan?', sondern 'Haben Kardinal, der Generalvikar, sonst ein Bistumsverantwortlicher richtig gehandelt?'", sagte Gercke vorab dem Kölner Stadt-Anzeiger. Dabei seien "Pflichtverletzungen noch lebender Akteure" auch auf höchster Ebene festgestellt worden. In der Pressekonferenz betonte Gercke, es habe nicht geprüft werden können, ob die Missbrauchsvorwürfe im Einzelfall zutreffend gewesen seien.
Auch zu Woelkis Verhalten gab es Untersuchungen
Woelki hatte die Juristen beauftragt, Verantwortliche namentlich zu benennen, gegebenenfalls auch ihn. Er stand in einem Fall selbst im Visier. Er soll den mittlerweile gestorbenen Düsseldorfer Pfarrer Johannes O. geschont haben, dem der Missbrauch eines Kindergartenjungen Ende der 1970er-Jahre zur Last gelegt wird. Nachdem Woelki 2014 Erzbischof von Köln geworden war, entschied er, nichts gegen O. zu unternehmen. Seine Begründung dafür: O. sei aufgrund einer fortgeschrittenen Demenz "nicht vernehmungsfähig" gewesen.
Im weltlichen Recht würde sein Zustand als verhandlungsunfähig bezeichnet werden, sagte Juristin Stirner. Es habe deshalb in Rücksprache mit Kirchenrechtlern keine Pflicht mehr zur Meldung an die Glaubenskongregation gegeben. Gercke sagte, es wäre ein Leichtes gewesen, den Kardinal "zum Schafott zu führen", aber die Aktenlage habe das nicht hergegeben. Deshalb habe sich auch Woelki keine Pflichtverletzung schuldig gemacht.
Das Gutachten steht unter großer öffentlicher Beobachtung. Es ist bereits die zweite Untersuchung zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum Köln. Kardinal Woelki hatte 2019 die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl mit einem Missbrauchsgutachten beauftragt. Eine für März 2020 geplante Vorstellung der Untersuchung wurde aber überraschend verschoben und dann im Oktober 2020 ganz abgesagt.
Als Grund führte die Bistumsleitung angebliche methodische Mängel und äußerungsrechtliche Probleme an. Kritiker indes vermuten, das Gutachten sei der Bistumsleitung zu unbequem geworden. Woelki entschied, das Gutachten nicht zu veröffentlichen. Dies löste unter den Gläubigen einen Sturm der Entrüstung und eine beispiellose Austrittswelle aus. Auch deshalb soll das Münchner Gutachten, das bisher unter Verschluss gehalten wird, am kommenden Donnerstag für Journalisten und Interessierte nach Voranmeldung einsehbar sein.
Der Kölner Staatsanwaltschaft liegt das erste Gutachten schon länger vor. Die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen, doch bisher wurden keine Anhaltspunkte für strafrechtliche Ermittlungen gefunden: Dafür seien die Taten schon zu lange her, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Auch bei Kardinal Woelki persönlich sieht die Staatsanwaltschaft kein strafrechtlich relevantes Verhalten. Nach Angaben von Gercke liegt mittlerweile auch das neue Gutachten bereits bei der Staatsanwaltschaft.