Migration aus Afrika:Jenseits der Klischees

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Gerettete Migranten aus der Subsahara sitzen 2017 in Messina an Deck des Schiffes "Golfo Azzurro" der NGO Proactive Open Arms. (Foto: Emilio Morenatti/dpa)

Der Soziologe Olaf Bernau erklärt, warum Europa die Migration aus Afrika nicht wird stoppen können. Und er zeigt auf, dass noch sehr viel fehlt zum gegenseitigen Verständnis der beiden Kontinente.

Von Judith Raupp

Es ist Zufall, dass das Buch "Brennpunkt Westafrika" von Olaf Bernau erschienen ist, kurz nachdem der russische Präsident Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine angezettelt hat. Aber die Koinzidenz zeigt, wie unterschiedlich Europäer zu Flüchtlingen stehen. Je näher die hilfesuchenden Menschen ihnen geografisch und kulturell sind, desto willkommener sind sie.

So können die Menschen aus der Ukraine auf große Empathie hoffen. Dagegen ertrinken jedes Jahr flüchtende Menschen aus Afrika und Asien im Mittelmeer, ohne dass Europa alle Kräfte mobilisieren würde, um sie zu retten. Seit 2014/2015, jenen Jahren, die aufgrund der hohen Zahl ankommender Menschen als "Flüchtlingskrise" in den Wortschatz eingingen, wurden laut den Vereinten Nationen (UN) 22 741 Tote aus dem Mittelmeer geborgen. Vermutlich sind aber sehr viel mehr Menschen ertrunken.

Europas Abschottungspolitik vor dem Scheitern

Der Soziologe Bernau untersucht, weshalb Menschen nach Europa wollen, obwohl die Reise lebensgefährlich ist und die Ankömmlinge nicht unbedingt auf Sympathie treffen. Er beschränkt sich bei der Suche nach den Fluchtursachen auf 16 Länder in Westafrika, weil er in der Region seit 2011 nach eigenen Angaben vier bis acht Wochen pro Jahr verbringt.

Seine These: Bernau bezweifelt, dass Europa mit seiner Migrationspolitik Erfolg haben wird. Abschottung mithilfe zweifelhafter Machthaber in den Durchgangsländern oder Versuche, mit Regierungen, die beim Volk unbeliebt sind, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern, können seiner Ansicht nach niemanden aufhalten.

Die öffentliche Debatte über Migration sei "über weite Strecken von Unkenntnis und Fehleinschätzungen geprägt", schreibt Bernau. Das liege unter anderem daran, dass die meisten Europäer ein verzerrtes Afrika-Bild hätten, und dass die langfristigen Auswirkungen von Sklaverei und Kolonialismus bis heute auf den Beziehungen zwischen Afrika und Europa lasteten.

Weder ein Safari-Kontinent, noch ein Riesenslum

Mit dieser Einschätzung liegt der Autor wohl richtig. Sein Aufruf, die Bevölkerung afrikanischer Länder differenziert zu betrachten und historische Zusammenhänge zu berücksichtigen, ist überfällig. Bernau führt so manches Klischee ad absurdum. So lästert er über westliche Touristen, die den "bunten" afrikanischen Kontinent rühmen, nur weil sie gerade einen Markt besucht haben, auf dem bunte Stoffe verkauft werden. Er führt vor Augen, dass Afrika weder eine einzige Safari mit Löwen ist, noch ein einziger riesiger Slum. Er weist auch darauf hin, dass der Kontinent kein wirtschaftliches Wunder verspricht, wie einige behaupten, nur weil in Afrika 1,3 Milliarden Menschen wohnen, die nichts anderes im Sinn hätten, als zu konsumieren.

Bernau erklärt zudem, dass nicht in erster Linie arme Menschen migrieren. Denn sie können sich die Reise nicht leisten. So leben laut Bernau durchschnittlich nur 2,6 Prozent der Bevölkerung der untersuchten westafrikanischen Länder im Ausland, viele davon in Nachbarländern. Zum Vergleich: Etwa vier Prozent der Deutschen leben in einem fremden Land und elf Prozent der Schweizer (nicht acht Prozent, wie Bernau schreibt). Arbeitsmigration findet also auch in reichen Ländern statt. In der Europäischen Union wohnen schätzungsweise gerade einmal neun Millionen Menschen aus Subsahara-Afrika, was zwei Prozent der EU-Bevölkerung ausmacht.

Der Autor erinnert auch daran, dass Migration in Westafrika eine althergebrachte Lebensweise ist. Hirten, Bauern und Händler mussten von jeher in Bewegung bleiben, um zu überleben. In einer anderen Region oder einem Nachbarland Arbeit zu suchen und nach einer Weile zurückzukehren, gilt bis heute als normal. Migration in ferne Länder kam aber erst auf, als die Kolonialmächte im Ersten Weltkrieg Soldaten in Afrika rekrutierten. Die Grundhaltung zur Migration in Westafrika ist also eher positiv, sodass die Idee, in Europa ein besseres Leben zu suchen, nahe liegt. Heute führe der Druck der Familien dazu, dass junge Afrikaner nach Europa zögen. Zudem senden Migranten laut UN enorme Geldsummen nach Hause. Viele Familien erhalten so mehr als die Hälfte ihres Haushaltseinkommens.

Schweres Erbe der Kolonialzeit

Wanderbewegungen von Afrika nach Europa nehmen die Europäer etwa seit den Achtzigerjahren als Problem wahr. Aufgrund zunehmender Abschottung wichen die Migranten auf immer gefährlichere Routen aus. Das erste dokumentierte Unglück ereignete sich laut Bernau im November 1988, als ein Schlauchboot vor Gibraltar kenterte.

Nordwärts: Ein Rettungsboot der "Sea-Watch 3" nähert sich im Februar 2021 im Mittelmeer einem Boot mit 97 Migranten. (Foto: David Lohmueller/dpa)

Das bestehende Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika führt Bernau auf die Sklaverei und die Kolonialzeit zurück. Experten sind sich zwar über das Ausmaß der Folgen uneinig. Aber Bernau sieht zu Recht Europa in der Pflicht, faire wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Afrika aufzubauen. Dazu gehört auch, sich um ein besseres Verständnis der lokalen Bevölkerung, nicht nur der politischen und urbanen Eliten zu bemühen.

Der Autor beruft sich auf zahlreiche afrikanische Intellektuelle, darunter Joseph-Achille Mbembe. Um den renommierten kamerunischen Historiker war 2020 in Deutschland eine heftige Antisemitismus-Debatte entbrannt, weil er die israelische Politik gegenüber den Palästinensern kritisierte. Mbembe weist den Vorwurf des Antisemitismus zurück.

Olaf Bernau: Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte. Verlag C.H. Beck, München 2022. 317 Seiten, 18 Euro. E-Book: 12,99 Euro. (Foto: N/A)

Irritierende Interpretationen

Etwas irritierend an Bernaus Werk ist, dass er manche Erklärungen anderer Experten für diverse Krisen in Afrika als Mythen abtut, nur um anzumerken, dass sie doch nicht ganz zurückzuweisen seien. Dabei bedient er sich bisweilen eines besserwisserischen Untertons. So unterstellt er etwa Autoren, die vorwiegend schlechte Regierungsführung für manche Übel verantwortlich machen, eine rassistische Haltung. Aktivistinnen, die das Verheiraten von Minderjährigen oder Beschneidung anprangern, bezichtigt er, "Stereotype eines finsteren, grausamen und patriarchalen Afrikas" heraufzubeschwören. Und selbstredend behauptet er, dass seine eigene Hilfsorganisation vieles besser mache als andere.

Abgesehen von manchen diskussionswürdigen Interpretationen sowie von einigen veralteten Zahlen ist "Brennpunkt Westafrika" ein lesenswertes Buch. Es liefert Stoff für Debatten, die das Verhältnis von Afrika und Europa weiterbringen könnten.

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