Flug MH17:Der Prozess beginnt ohne die vier Angeklagten

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Der Bug der über der Ostukraine abgeschossenen Boeing wurde in den Niederlanden rekonstruiert. (Foto: Getty Images)

Ein Gericht in den Niederlanden versucht zu rekonstruieren, wie es zu dem Flugzeugabschuss mit fast 300 Toten kam. Das Urteil wird für Moskau von vornherein nicht zählen. Zunächst steht am ersten Prozesstag das Gedenken im Vordergrund.

Von Thomas Kirchner, Amsterdam, und Frank Nienhuysen, München

Der verstörendste Moment des Tages beginnt um 12.03 Uhr. Da hebt Staatsanwältin Dedy Woei-A-Tsoi an, die Namen der Menschen vorzulesen, die beim Abschuss von Flug MH17 über der Ukraine am 17. Juli 2014 starben. 298 Namen nennt sie, als wären es 298 Anklagen, malaysische, indonesische, englische, französische, niederländische, deutsche, arabische Namen, sie spricht nicht langsam, doch es dauert und dauert, fast 20 Minuten lang. Besonders quälend ist es, wenn derselbe Nachname mehrmals hintereinander fällt, etwa bei Sophie-Charlotte, Fleur und Bente van der Meer, zwölf, zehn und sieben Jahre jungen Mädchen, die zusammen mit ihrer Mutter aus dem Leben gerissen wurden.

Unmittelbar danach unterbricht der Vorsitzende Richter Hendrik Steenhuis die Sitzung, fordert "Stille und Besinnung" ein. Begonnen hat er diesen ersten Prozesstag mit Formalien, einer "Inventarisierung", wie er das nennt. Er erläutert Spielregeln und Ablauf des Verfahrens, stellt fest, dass keiner der vier Angeklagten Igor Girkin, Leonid Chartschenko, Oleg Pulatow und Sergej Dubinskij anwesend ist. Die vier gehörten der pro-russischen Miliz in der Ostkraine an, Girkin war ihr Anführer. Sie sind des 298-fachen Mordes angeklagt. Einer von ihnen, Pulatow, lässt sich von zwei niederländischen Anwälten und einem russischen Kollegen verteidigen.

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Die Niederlande garantieren ein faires Verfahren. Die Akte umfasst 36 000 Seiten

Hier im großen, leicht zu sichernden Justizkomplex am Flughafen Amsterdam will das Bezirksgericht Den Haag nun also herausfinden, was genau geschah an jenem Unglückstag und vor allem: Wer dafür verantwortlich ist. Nicht zuletzt, um den Angehörigen etwas Genugtuung zu verschaffen, die seit fast sechs Jahren auf Gerechtigkeit warten. Ihr Leben sei "sinnlos" geworden, sagt ein Staatsanwalt, wann immer sie an den Todesflug erinnert würden, "gehen Wunden auf, die nicht mehr heilen".

Die Niederlande hatten 196 Opfer zu beklagen. Um zu verstehen, was der "Monsterprozess", wie er genannt wird, für das Land bedeutet, muss man zurückblicken auf den 23. Juli 2014: Ein Flugzeug landet in Eindhoven, darin Särge mit Überresten der Toten. Millionen Menschen bleiben schweigend stehen in diesem Moment, der Verkehr ruht, die Windmühlen sind auf Trauerschere gestellt. Eine Nation, im Schmerz vereint, will die Wahrheit wissen: Wer hat das getan?

"Wir haben dem Land und vor allem den Angehörigen versprochen, unser Möglichstes zu tun, um dafür zu sorgen, dass Recht geschieht", sagt Justizminister Sander Dekker. "Wichtig ist, dass wir das auf der Basis rechtsstaatlicher Prinzipien tun. Dass wir ein faires, korrektes Verfahren garantieren, um auch einen Standard zu setzen."

Entsprechend gründlich sind die Ermittler aus den am meisten betroffenen Ländern - den Niederlanden, Belgien, Australien, Malaysia und der Ukraine - ans Werk gegangen, die sich zum Joint Investigation Team (JIT) zusammengeschlossen haben. Schon zwei Tage nach dem Unglück lässt die niederländische Polizei eine Art Abbild des Internets erstellen: 350 Millionen russischsprachige Webseiten, von sozialen Medien und Foren. 450 Menschen werten das aus. Der ukrainische Geheimdienst SBU liefert Mitschnitte von Gesprächen, in denen sich Kommandeure der von Russland unterstützten ostukrainischen Rebellen rühmen, ein Flugzeug abgeschossen zu haben; die USA steuern Radarbilder bei. Die Akte zum Fall umfasst 36 000 Seiten.

Laut den Erkenntnissen des JIT, die von der privaten britischen Recherchegruppe Bellingcat untermauert werden, ist Folgendes passiert: Die Rakete, die das Flugzeug traf, wurde von einem Flugabwehrsystem des Modells Buk-M1 Telar abgefeuert. Dieses System war kurz zuvor in einem Konvoi von der 53. Luftabwehrbrigade im russischen Kursk in die Nähe des ostukrainischen Ortes Snischne gebracht worden, wo zu dieser Zeit heftig gekämpft wurde. Bedient wurde die Buk wohl von russischen Soldaten, die noch nicht gefunden wurden. Doch die vier Angeklagten sollen das Gerät in seine Position gebracht haben und letztlich für den Abschuss verantwortlich sein. Das JIT wird später vermutlich noch weitere Verdächtige benennen und anklagen.

Pulatows Verteidiger sagen, er habe nichts mit dem Abschuss zu tun. Zu viel sei ungeklärt, etwa die Frage, wieso die Ukraine den Luftraum über dem Kriegsgebiet nicht gesperrt habe. Dass Pulatow sich verteidigen lässt, verändert den Prozess stark, er wird konfrontativer. Die Anwälte würden versuchen, den Prozess in die Länge zu ziehen und zu untergraben, meint Marieke de Hoon, Strafrechtlerin an der Freien Universität Amsterdam. Die Verteidigung werde behaupten, dass es sich um einen "Schauprozess" handle und in Wahrheit die Ukraine hinter dem Unglück stecke.

Genau auf dieser Linie argumentiert auch Russland, das jegliche Verwicklung in den Abschuss der Maschine dementiert und die Ermittlungen des JIT immer wieder angezweifelt hat. Das Außenministerium in Moskau beklagt, dass Russland keine Möglichkeit gehabt habe, bei den Ermittlungen mitzumachen und dass von Russland überreichte Informationen ignoriert würden. Moskau wird also das Ergebnis des Prozesses wohl nicht anerkennen, wie Kremlsprecher Dmitrij Peskow bereits im vorigen Juli klarmachte. Russland hatte allerdings 2015 seinerseits die Einrichtung eines internationalen UN-Strafgerichts zum Fall MH17 blockiert.

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Die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, beschuldigte die Niederlande zudem einer Medienkampagne, eines "groben Versuches, das Gericht unter Druck zu setzen".

Mehrmals hat Russland in den vergangenen Jahren eigene, jeweils verschiedene Versionen für den Abschuss der Maschine präsentiert und etwa behauptet, dass die Buk-Rakete von einem Ort abgefeuert worden sei, der unter ukrainischer Kontrolle gestanden habe. Ein im Jahr 2014 im russischen Staatssender präsentiertes "sensationelles" Video, das angeblich den Abschuss der Maschine durch einen ukrainischen Kampfjet zeigt, hat der Sender-Chef später selber als "Fehler" bedauert.

Für Russland geht es um viel. Denn es hat stets beteuert, dass es in den Konflikt in der Ostukraine gar nicht verwickelt sei. Und es geht natürlich auch um Geld, um mögliche hohe Entschädigungszahlungen. Interessant dabei ist, dass vor genau einem Jahr, im vergangenen März, der niederländische Außenminister Stef Blok in einem Brief an das Den Haager Parlament mitgeteilt hat, dass Russland, die Niederlande und Australien über die rechtliche Verantwortung in dem Fall reden, diskret im Hintergrund. "Wir hoffen, dass die russische Regierung anerkennt, dass es eine Rolle der russischen Armee gegeben hat", sagte Blok im Sommer der SZ. Und dass Moskau eines Tages bereit sein werde, Entschädigungen für die Opfer zu bezahlen. Die erste Hoffnung wird wohl enttäuscht, die zweite könnte sich erfüllen.

Die russische Bevölkerung ist nach einer Umfrage des Instituts Lewada zu 60 Prozent der Meinung, dass ihr Land keine Schuld an dem Abschuss trägt. Andererseits fänden aber auch 62 Prozent der Befragten, Russland müsse die Opferfamilien entschädigen, wenn das Gericht zum Urteil käme, dass es verantwortlich ist.

© SZ vom 10.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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