Frankreich:"Das ist wunderbar, das ist einfach, das ist weise"

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Honoris causa: Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer Ehrendoktorurkunde. (Foto: Bertrand Guay/AFP)

Angela Merkel erhält die Ehrendoktorwürde der Pariser Elitehochschule Sciences Po - und erklärt, warum europäische Einigungen eine gewisse "Unübersetzbarkeit" brauchen.

Von Thomas Kirchner, Paris

Es gab mehrere anrührende Momente, als Angela Merkel am Dienstagabend in der Pariser Hochschule Sciences Po die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Der schönste war wohl die fast kindliche Freude der Laudatorin Laurence Bertrand Dorléac über die Zukunftspläne der ehemaligen Kanzlerin. Also die längst berühmten Merkel-Sätze über Nachdenken, Buchlesen, Nickerchen machen und dann mal schauen, wie es weitergeht. In Frankreich, wo der Staatsmann immer auch Kulturmensch sein muss, hat das einen Nerv getroffen. "Das ist wunderbar, das ist einfach, das ist weise", lobte Dorléac, Präsidentin der Fondation Nationale des Sciences Politiques, Frankreichs oberste Politikwissenschaftlerin.

Merkel wird gerade oft geehrt. Aber in Paris, im Herzen der Wissenschaft, in einer der wichtigsten Politikhochschulen der Welt, an der alle französischen Präsidenten studiert haben, mit denen sie in ihrer Amtszeit zu tun hatte - Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron -, das ist etwas Besonderes. Vor dem Staatsbesuch Macrons in Deutschland kommende Woche und angesichts lauten Knirschens zwischen Paris und Berlin geriet der Abend im voll besetzten Amphithéâtre Émile Boutmy nicht nur zu einem Hochamt der deutsch-französischen Beziehungen. Merkel gelang es auch, die Essenz ihres politischen Denkens in Worte zu fassen. Die wiederum einiges mit Frankreich zu tun haben.

Gegründet wurde die Uni 1871 nach der Niederlage Frankreichs gegen Deutschland

Sciences Po, darauf wies der neue Direktor Mathias Vicherat einleitend hin, steht seit Jahrzehnten für die besonders enge deutsch-französische Zusammenarbeit. Hier in St. Germain, einen Steinwurf vom Sitz der Premierministerin entfernt, lernen 700 junge Deutsche. Sciences Po hat 27 Partnerunis in Deutschland, es gibt gemeinsame Studiengänge mit der Freien Universität Berlin oder der Hertie School.

Dabei entstand die École libre des sciences politiques unter "dunklen Vorzeichen" (Vicherat): der Niederlage Frankreichs gegen Deutschland im Krieg von 1871. Um diese Demütigung zu überwinden, wurde die Hochschule gegründet. Folge eines Unterlegenheitsgefühls also. "Ja, Frau Kanzlerin", sagte Vicherat ironisch, "es gab eine Zeit, ganz kurz, in der die Franzosen einen Minderwertigkeitskomplex verspürten."

Merkel erinnert an gemeinsam durchlittene Krisen

Merkel bedankte sich zunächst mit einem Rückblick auf das Deutsch-Französische in ihrem Leben. Vor 1989: nichts. Danach: erste, von Helmut Kohl eingefädelte Kontakte zu Intellektuellen, zur Kanzlerinnenzeit die mit den Nachbarn durchlittenen Krisen: EU-Verfassung, Euro, Flüchtlinge, Pandemie, Krieg in der Ukraine. Alles "Beispiele, wie gemeinsames deutsch-französisches Handeln zum Wohle Europas beigetragen hat".

Und was macht dieses Europa aus, was ist seine "Seele"? Hier klaute Merkel, wie sie einräumte, Teile einer Merkel-Rede von 2007. Die gerade von allen Seiten bedrohte Toleranz sei es, die nur möglich sei, wenn man etwas wisse über den anderen; wenn man "mit den Augen des anderen sehen" könne. Was einen wiederum zum "Kompromiss" befähige, dessen Lob Merkel ausführlicher sang als je zuvor. Gemeinsames Handeln, deutsch-französisch wie europäisch, sei nur möglich dank solcher "Übereinkünfte durch gegenseitige Zugeständnisse", bei denen für jeden die Vorteile die Nachteile überwögen. Zugeständnisse aber müsse man aus Überzeugung machen und dürfe sie nicht als Niederlage oder gar Schmach empfinden.

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In Anspielung auf Reden Macrons, den sie mehrmals zitierte, sprach Merkel von der "Unübersetzbarkeit", der "Ambiguität" als besonderer Qualität europäischer Einigungen. Das "bedingungslose Streben nach vollständiger Eindeutigkeit" hingegen zerstöre die Fähigkeit zum Kompromiss. Nicht wenige im Publikum werden dabei an die fundamentalen Interessenunterschiede gedacht haben, die Paris und Berlin derzeit auseinandertreiben, beim Euro, der Atomkraft, der Luftverteidigung. Es fällt, trotz aller Liebesschwüre, beiden Seiten gerade sehr schwer, "mit den Augen des anderen zu sehen" - und Kompromisse zu finden.

Fast beiläufig schloss Arancha González, Dekanin der School of International Affairs, ihre Bemerkungen mit einem großen Satz ab: "Danke, dass Sie uns den Weg gewiesen haben." Merkel reagierte typisch, bescheiden bis zur Schüchternheit. Ein verhuschtes Winken, keine Triumphgeste. Und schnell wieder hinsetzen.

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