Zwei DIN-A4-Seiten, auf Arabisch, eng bedruckt, 53 Punkte. Ein Brevier des Grauens. "Sie schließen Stromkabel an das rechte und an das linke Bein an. Sie nennen das Lügendetektor, und wenn eine Antwort dem Offizier nicht gefällt, drückt er einen Knopf, dass der Strom einen solchen Schmerz an der Wirbelsäule auslöst, dass man denkt, sie zerbreche." Nur ein Auszug aus einem Dokument, in dem das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Kairo die Methoden dokumentiert hat, mit denen Gefangene in Ägypten malträtiert werden, von Polizisten, von den Agenten des Staatssicherheitsdienstes, in den Gefängnissen.
Es sind Aussagen von Überlebenden. Den Schilderungen zufolge wurden sie mit Handschellen an den Handgelenken aufgehängt, verprügelt mit Rohren, Schläuchen, Metallstangen, mit verbundenen Augen mit dem Kopf gegen Wände geschlagen. Die Folterer drohten ihnen, ihre Frauen und Töchter zu vergewaltigen, nachdem sie einen Stock in ihren Anus getrieben hatten. Die Stromkabel wurden auch an Geschlechtsteilen angeschlossen. Jedes Mal, wenn ein Gefangener in die Zelle kommt, sei es nach der Verhaftung oder wenn er etwa von einem Gerichtstermin zurückkehrt, gibt es eine "Willkommensparty". Die Insassen der ganzen Zelle, oft mehr als 20, werden zusammengeschlagen.
Es sind vier Frauen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Opfern zu helfen. Sie betreuen die Menschen medizinisch und psychologisch, aber sie sind überzeugt, dass zur Rehabilitierung der Opfer von Polizeigewalt und Folter auch gehört, die Misshandlungen zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Sich dagegen zu engagieren und bestenfalls die Täter juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Die Deutsche Sektion der Menschenrechtsorganisation Amnesty International verleiht dem Nadeem-Zentrum dafür den Menschenrechtspreis 2018, an diesem 25. Januar, dem Jahrestag der Revolution von 2011.
Doch ihre Arbeit hat die Frauen selbst in den Fokus des Sicherheitsapparats gebracht. Im Ägypten von Präsident Abdel Fattah al-Sisi bestreitet die Regierung vehement, dass es systematische Folter oder Misshandlungen gebe. Die Erkenntnisse des Nadeem-Zentrums entlarven das als Lüge. Allerdings sagt der Staatschef offen, dass die Menschenrechte in Ägypten "nicht aus einer westlichen Perspektive zu betrachten" seien, ganz so, als habe Kairo nicht als eines von 48 Ländern 1948 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beschlossen und eine Vielzahl anderer UN-Konventionen unterzeichnet.
Die Aktivistinnen des Nadeem-Centers in Kairo riskieren viel mit ihrer Arbeit: Mona Hamed...
...Magda Adly...
... Aida Seif el-Dawla...
und Suzan Fayad.
Im Februar vergangenen Jahres stürmte die Polizei die Räume des Nadeem-Zentrums in einem Haus im Zentrum von Kairo. Die Beamten wollten es schließen, doch die Anordnung des Gesundheitsministeriums betraf nur die Praxis, in der die Folteropfer behandelt wurden. Bis heute ist sie versiegelt. Ein Richter muss nun am 21. Februar entscheiden, ob das Zentrum seine Praxis-Lizenz überschritten hat, indem es Folteropfer nicht nur behandelte, sondern zugleich deren Leid dokumentierte und publizierte. Während die Praxis über das Gesundheitsministerium registriert war, ist Nadeem auch noch als Menschenrechtsorganisation bei der Regierung akkreditiert.
Aida Seif al-Dawla, Doktorin der Psychiatrie, öffnet die Tür zur Nachbarwohnung der versiegelten Praxis; darin befinden sich die Büroräume der Organisation. Die 63-Jährige hat das Zentrum 1993 mitgegründet, heute koordiniert sie das Rehabilitationsprogramm für Folterüberlebende. Obwohl die Behörden die Praxis geschlossen haben, betreute die Organisation im vergangenen Jahr 92 neue Fälle, sagt sie. Die Patienten werden in anderen Praxen behandelt, es gibt Hausbesuche, manche mussten sie sogar in Parks treffen. Unter ihnen seien viele Opfer von Polizeigewalt, oft seien sie wegen Lappalien festgenommen worden.
Erst vor zwei Wochen starb der 22-jährige Mohamed Abdul Hakim, Spitzname Afroto, binnen Stunden nach der Festnahme in der Polizeistation des Kairoer Stadtteils Muqattam - angeblich an einer Überdosis Drogen. Laut seiner Familie wurde er zu Tode geprügelt. Solche Fälle gibt es beinahe wöchentlich in allen Provinzen. Polizeigewalt, Willkür und Schikanen waren seinerzeit wichtige Auslöser des Aufstands gegen den langjährigen Diktator Hosni Mubarak.
Angehörige von Verschwundenen erleiden Traumata
Inzwischen seien unter den Opfern immer mehr politische Aktivisten oder Menschen, die beschuldigt würden, der verbotenen Muslimbruderschaft anzugehören, sagt Suzan Fayad, 60, ebenfalls promovierte Psychiaterin und neben der derzeitigen Direktorin, der Medizinerin Magda Adly, 64, die dritte Mitbegründerin des Zentrums. Bis zum Jahr 2000 habe man kaum mit politischen Fällen zu tun gehabt, sagt sie. Das änderte sich, als Aktivisten begannen, auf die Straßen zu gehen. "Heute ist das die Mehrheit der Fälle, und wir behandeln zunehmend Menschen mit Sekundärtraumata", berichtet Mona Hamed, 59. Die Ärztin und Neuropsychiaterin kam 2001 zu Nadeem und leitete die Praxis.
Menschen mit Sekundärtraumata: Gemeint sind Angehörige und Freunde von Menschen, die der Sicherheitsapparat verschwinden lässt. Diese Verschleppungen sind mittlerweile gängige Praxis in Ägypten, es gibt Hunderte Fälle pro Jahr. Oft wissen Familien wochen- oder monatelang nicht, wo die Angehörigen sind - und ob sie überhaupt noch leben. Behandelt werden auch Verwandte von Häftlingen, die in den Gefängnissen gefoltert oder medizinisch vernachlässigt werden. Immer wieder sterben Gefangene, weil ihnen trotz schwerer Krankheiten wie Diabetes oder Hepatitis die nötige medizinische Versorgung vorenthalten wird. Besonders schlimm sind die Zustände in den Hochsicherheitsgefängnissen, in denen die politischen Gefangenen eingesperrt sind. Deren Zahl schätzen Menschenrechtsorganisationen auf Zehntausende, offiziell gibt es nicht einen einzigen.
Die Frauen weisen darauf hin, dass ihre Organisation in Kairo nur in einem Bruchteil der Fälle die Überlebenden behandle, das sei "die Spitze der Spitze der Spitze des Eisbergs". Viele Opfer trauten sich nicht, Hilfe zu suchen.
Die Auszeichnung für ihre Arbeit werden die vier nicht persönlich entgegennehmen können: Gegen Seif al-Dawla und Fayad haben die Behörden ein Ausreiseverbot erlassen. Und auch das Preisgeld wird Amnesty auf absehbare Zeit nicht auszahlen können. Finanzierung aus dem Ausland ist für Menschenrechtsgruppen und andere Organisationen in Ägypten verboten.